Ich bin mir nicht sicher, ob wir vielleicht aneinander vorbeireden. Ich habe bis jetzt die Vorstellung gewonnen, dass die Läsionen deswegen keinen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Krankheitsverlauf haben (also als Extreme: 1 Herd = Gehunfähigkeit und dagegen: 100 Herde = kaum Krankheitssymptomatik), weil das Gehirn ganz viel Reservegewebe hat, bestimmte Gehirnfunktionen wie z. B. die des Sehnervs aber nur schlecht durch das umliegende Gewebe ersetzt werden können. Wenn man Pech hat, hat man eine Läsion an einer strategisch wichtigen Stelle, deren Funktion wichtig ist und schlecht vom umliegenden Gewebe ersetzt werden kann - dann hat man massive Symptome. Wenn man Glück hat, ist Gewebe betroffen, dass eigentlich nur Reservegewebe ist oder dessen Funktionen durch das umliegende Gewebe leicht ersetzt werden kann - dann hat man keine oder leichte Symptome.
Ich dachte eigentlich, dass diese Auffassung unstrittig und klar wäre. (Aber vielleicht irre ich mich hierin?)
Dein letzter Beitrag klingt so als wenn diese Auffassung zwar vage ist, weil wenig erforscht, prinzipiell aber in der Lage wäre, die Unterschiede zwischen Herdanzahl und Behinderungsgrad zu erklären. Damit wäre dann aber der Behinderungsgrad durchaus von den Läsionen abhängig, nur kommt es halt AUCH darauf an, ob das betroffene Gehirngewebe strategisch wichtig ist oder keine wichtige Funktion hat bzw. leicht von anderem Gewebe ersetzt werden kann. Wenn diese Auffassung stimmt, dann wäre es auch nicht völlig falsch, die Medikamentenstudien anhand des Indikators “Herdanzahl” zu bewerten. Geht man nämlich davon aus, dass die Herde nach einer zufälligen Verteilung an strategisch wichtigen oder unwichtigen Stellen auftreten, dann bedeutet jede Reduktion der Herdanzahl eine Reduktion der Wahrscheinlichkeit, einen Herd an einer strategisch wichtigen Stelle zu bekommen, also einen Nutzen.
Wenn ich den Uniklinik-Arzt richtig verstanden hatte, gibt es aber wohl Indizien dafür, dass die Läsionen in überhaupt gar keinem kausalen Verhältnis zur Behinderung stehen (was ich mir schlecht vorstellen kan - vielleicht habe ich ihn auch falsch verstanden). Und du hattest vorher halt auch so selbstverständlich geschrieben: “Es hat sich aber gezeigt, daß der tatsächliche Zustand davon UNABHÄNGIG ist.” Meine Frage ging daher in diese Richtung: Gibt es Indizien dafür, dass die Läsionen (die Läsionen selbst, nicht ihre Anzahl!) wirklich GAR NICHTS mit dem Grad der Behinderung zu tun haben?
Meinst du mit den Hinweisen dazu, dass MS ein degenerativer Prozess ist, die hier? DMSG: <a href=“http://www.dmsg.de/multiple-sklerose-news/index.php?kategorie=forschung&anr=1438”>http://www.dmsg.de/multiple-sklerose-news/index.php?kategorie=forschung&anr=1438</a>; Amsel:<a href=“http://www.amsel.de/ms/index.php?kategorie=medizin&anr=2422”>http://www.amsel.de/ms/index.php?kategorie=medizin&anr=2422</a>
Woher hast du das mit den 8%, denen Interferon etwas bringt? Mir sind bisher immer nur so Zahlen um die 8 % begegnet.
In der den DMSG- und Amsel-Artikeln zugrunde liegenden Studie wird die Interferon-Frage nur sehr vage angesprochen (Abstract: <a href=“http://www.co-neurology.com/pt/re/coneuro/abstract.00019052-200706000-00005.htm”>http://www.co-neurology.com/pt/re/coneuro/abstract.00019052-200706000-00005.htm</a>), nämlich in diesem Absatz:
“The clinical and epidemiological dissociation between relapses and disability accumulation in the long term is not contradictory with a short-term influence of relapses on MS course. It has been shown many times for example that the higher the number of relapses in the first years of the disease, the shorter the time from disease onset to assignment of irreversible disability scores [15]. However, this relationship seems to exist only before a detectable disability threshold has been reached. The same is true for other classically described early clinical predictors that were no longer associated with long-term outcome as estimated from DSS 4 or DSS 6 onwards [12,16]. It also has been clearly demonstrated that relapses do have an effect on the measure of short-term disability, which might be considered as confirmed in clinical trials if persisting over 3 or 6 months, but can surely not be considered irreversible as defined in natural history studies [17–19]. This point might be crucial, as strong assumptions have been made concerning correlations between relapse frequency and disability outcomes, and they have been influencial in determining clinical trial design and interpretation. Thus, the demonstration of a short-term effect (over a 2- or 3-year period) of immunoactive treatments on reducing the relapse rate and sometimes even disability outcomes has led to the potential of predicting a change in the long-term outcome of treated patients [20,21]. These recent results give new arguments against these hypotheses.”
Das Argument lautet also etwa folgendermaßen: Bisher wurde angenommen, dass mehr Schübe auch zu stärkerer/schnellerer Behinderung führen. Nun zeigt sich aber, dass vor allem die Zeit seit Ausbruch der Krankheit bestimmt, welcher Grad von Behinderung erreicht wird, während die Schubanzahl eher egal ist. Daher ist es auch zweifelhaft, dass immunmodulatorische Therapien einen Einfluss auf den langfristigen Krankheitsverlauf haben, da bei ihnen bloß eine Schubreduktion über 2 bis 3 Jahre nachgewiesen ist, die Schubanzahl ja aber egal für den Behinderungsgrad ist.
Auch wenn das Argument gut ist, um Zweifel zu nähren, habe ich 2 Probleme damit: Erstens geht die Studie selber überhaupt nicht auf immunmodulatorische Behandlungen ein. Ob die Probanden damit (teilweise) behandelt wurden, deren Daten zu der Hypothese führten, dass nicht die Schubanzahl, sondern nur die Zeit seit Ausbruch der Krankheit für den Behinderungsgrad wichtig sind, ist (soweit ich sehen kann) nicht dokumentiert. Zweitens vermute ich, dass es ein paar Studien dazu gibt, dass Immunmodulatoren nicht nur die Schubanzahl reduzieren, sondern auch die Behinderungsprogression (wobei ich das nicht weiß und gerade auch nicht recherchieren mag). Das würde der Argumentation der Studie dann aber zuwiderlaufen.
Das Meckerle schrieb: “Ich bin auf ein paar interesante Links gestossen, die ich aber erst komplett lesen (und auch verstehen) muss. Wenn es dich interesiert werde ich sie dir hier posten”
Klar würde mich das interessieren. Ehrlich gesagt finde ich es sowieso etwas schade, dass es hier nicht häufiger inhaltlich orientierte ausführlichere Diskussionen zu Studien oder sonstigen Quellen gibt und dass nicht mehr zusammengetragen wird, wieso (also aufgrund welcher Informationen) man zu der einen oder anderen Überzeugung hinsichtlich eines Themas kommt. Ich fände es sehr gut, wenn ein MS-Forum so etwas leisten könnte. Und ich fände es übrigens auch sehr gut, wenn die DMSG mehr Energien da rein stecken würde, den Forschungsverlauf systematisch und transparent für die interessierten Laien aufzubereiten. Vermutlich gibt es schon deswegen viele MSler, die sich für die Studien nicht interessieren, weil sie in der Regel auf Englisch publiziert werden oder weil sie für den Laien schwer verständliche statistische Methoden verwenden …
In dem Zusammenhang kann ich auch erwähnen, dass ich deinen Hinweis auf Aktienkurs-Ratings ziemlich erfrischend fand. Ich kann zwar überhaupt nicht beurteilen, wie diese Information einzuschätzen ist, dass sie aber IRGENDETWAS damit zu tun hat, wie Tysabri qualitativ einzuschätzen ist, würde ich nicht bestreiten wollen.
Die gegenseitigen Pöbeleien in diesem Thread fand ich hingegen eher nervig, wenn auch teilweise etwas unterhaltsam.