Hallo Hokki,
meine MS wurde erst nach mehreren Jahren diagnostiziert und als ich schon deutliche Symptome merkte, wie Sensibilitäts- und Sehstörungen, habe ich sie noch jahrelang verdrängt. Ich dachte, warum soll gerade ich diese seltene Krankheit kriegen, eine sehr gute Freundin von mir bekam sie schon mit 23, und es kommt doch nicht vor, dass “der Blitz zweimal einschlägt”.
In der “gutartigen” Frühphase kann gerade das Großhirn die Schäden noch gut kompensieren, unbeschädigte Hirnbereiche können die Aufgaben der zerstörten übernehmen und man merkt höchstens ein allgemeines Nachlassen der Leistungsfähigkeit. Das lässt sich leicht verdrängen, und das Nachlassen der Belastbarkeit schiebt man auf Stress oder fortschreitendes Alter.
Ein frühes Symptom bei mir war die Fatigue, nur wusste ich damals noch nicht, was das ist.
Die Bestie MS schläft aber nicht, sie frisst heimlich mehr und mehr kaputt wie Rost am Auto, der sich unbemerkt in Schweller und Hohlräume frisst und wenn er sich nach außen durchfrisst, ist es schon zu spät, um noch viel zu retten.
Bei mir hat sich die MS für ca. 5 Jahre Kopf-in-den-Sand-stecken tüchtig gerächt. Sie schlug innerhalb von 2 Jahren tüchtig zu, es ging im letzten halben Jahr vor der Diagnose rapide bergab, und als ich die offizielle Diagnose bekam, hatte ich es in den ca. 2 Jahren davor von EDSS 2 auf EDSS 6 gebracht und war erwerbsunfähig. Ich hatte bei der Diagnose einen GdB von 80 erreicht und bereits Merkzeichen aG. Ein halbes Jahr danach konnte ich nicht mehr autofahren und bekam einen Rolli.
Die MS fängt in 90 % der Fälle “gutartig” an, nur 10 % bekommen die bösartige MS, die in wenigen Fällen auch zum frühen Tod führt.
80 von diesen 90 % nehmen den normalen Verlauf, die “gutartige” Frühphase dauert ohne Behandlung ca. 10-15 Jahre, dann ist das ZNS aber schon so geschädigt, dass die Schäden immer schlechter kompensiert werden können. Nach dem “Crash” wird man progredient.
10 % haben lebenslang eine gutartige MS, die mit gelegentlichen Schüben verläuft, und sind noch im höheren Alter relativ wenig behindert.
Nur weiß man eben nicht, zu welcher Gruppe man gehört, außer, man hat die bösartige MS, die einen in wenigen Jahren in den Rolli befördert, aber die ist dann auch mit Medikamenten kaum aufzuhalten.
Was kann ich dir auf deine Frage antworten? Nichts. Nur eins: “Prognoseregeln” sind nichts als Wunschdenken, und müssen immer mit der Einschränkung gelesen werden, dass es keine Regel ohne Ausnahme gibt.
Und es gibt sogar unter den Neurologen Verdrängungskünstler, natürlich, auch Ärzte sind Feiglinge. Mir sagte der Krankenhausneuro, der mir die Diagnose brachte, dass ich eine milde MS hätte und nicht mit dem Rollstuhl rechnen müsste, ehe ich 80 bin. Eine Therapie hielt er für unnötig.
Er war wohl einfach feige und wollte nicht riskieren, dass der Klinikhausmeister das Pflaster unter der Station mit dem Gartenschlauch abspritzen muss. Eine Frau war nach der Diagnose auf den Balkon der Station gegangen, da standen Balkonmöbel. Sie stieg auf einen Stuhl und dann übers Geländer. Sie war sofort tot gewesen.
Er hätte besser gesagt, dass Prognosen reine Kaffeesatzleserei sind und dass auf sie nicht Verlass ist. Ein halbes Jahr nach der Kaffeesatzleserei musste ich mir den Rolli verschreiben lassen.
Ich habe den Kopf auch in den Sand gesteckt, und ich muss sagen, der Sand fühlte sich gut an, warm und weich.
Jetzt ist es so kalt da draußen. Ich will wieder in den Sand rein, aber ich schaffe den Weg dorthin nicht mehr. Ich komme mit dem Rolli nicht mehr aus der Wohnung. Hier gibt es keinen Sand. Ich möchte nach Hause zurück, in mein früheres Leben, als ich noch mein Häuschen hatte und meine Mobilität.
So ist es kein Leben mehr, nur noch ein Da-Sein, von Tag zu Tag. Wie lang noch bis zum Grab? Ich kann nicht mal mehr mein Grab besuchen, das meiner Eltern, in dem ich auch mal beerdigt werden will (es hat noch eine Urne Platz). Der Friedhof ist nicht rollitauglich.
Mach die Augen zu, solange du es noch kannst. Das schreckliche Erwachen kommt noch früh genug.