„… genauso sagte man bei allen Gelegenheiten: „Geh doch zu Momo!“
Aber warum? War Momo vielleicht so unglaublich klug, dass sie jedem Menschen einen guten Rat geben konnte? Fand sie immer die richtigen Worte, wenn jemand Trost brauchte? Konnte sie weise und gerecht Urteile fällen?
Nein, das konnte Momo ebenso wenig wie ein anderes Kind.
Konnte Momo dann vielleicht irgendetwas, das die Leute in gute Laune versetzte?
…
Nein, das konnte sie auch nicht.
Konnte Momo vielleicht besonders gut singen?
…
Nein, das konnte sie auch nicht.
Konnte sie vielleicht zaubern?
…
Nein das konnte sie auch nicht.
…
Was die kleine Momo so gut konnte wie kein anderer, das war : Zuhören…
Und so wie Momo sich aufs zuhören verstand, das war ganz einmalig.
Momo konnte zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nein, nicht etwa, weil sie etwas sagte, oder fragte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit, mit aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm streckten.
Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankam und der ebenso schnell ersetzt werden kann, wie ein kaputter Topf und er ging hin und erzählte alles der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, ganau so wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.
So konnte Momo zuhören.
…
Ein anderes Mal brachte ihr ein keiner Junge einen Kanarienvogel, der nicht singen wollte. Das war eine sehr viel schwerere Aufgabe für Momo. Sie musste ihm eine ganze Woche lang zuhören, bis er endlich wieder zu trillern und jubilieren begann.
…
An manchen Abenden, wenn alle ihre Freunde nach Hause gegangen waren, saß sie noch lange still in dem großen steinernen Rund des alten Theaters, über dem sich der sternenfunkelnde Himmel wölbte, und lauschte einfach auf die große Stille. Dann kam es ihr so vor, als säße sie mitten in einer großen Ohrmuschel, die in die Sternenwelt hinaushorchte. Und es war ihr, als höre sie eine leise und doch gewaltige Musik, die ihr ganz seltsam zu Herzen ging.
In solchen Nächten hatte sie immer besonders schöne Träume. Und wer nun noch immer meint, zuhören sei nichts Besonderes, der mag nur einmal versuchen, ob er es auch so gut kann.
MOMO
Michael Ende