aus dem Deutschen Ärzteblatt:
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USA: Baldige Rückkehr des MS-Medikaments Tysabri?
Donnerstag, 9. März 2006
Rockville - Ein Beraterkommittee hat der US-Arzneibehörde FDA die Wiederzulassung von Tysabri® empfohlen. Das umstrittene Medikament zur Behandlung der multiplen Sklerose war im Februar 2005 nach nur drei Monaten vom Markt genommen worden, nachdem zwei, später drei Patienten an einer schweren Komplikation im Gehirn erkrankt waren. Die FDA rechnet nach einer Wiederzulassung fest mit weiteren Todesfällen.
Tysabri enthält den monoklonalen Antikörper Natalizumab, der gegen Integrine gerichtet ist. Integrine werden auf der Oberfläche von Leukozyten exprimiert. Sie erlauben diesen Zellen an Adhäsionsmolekülen auf den Endothelien der Gefäßwand „anzudocken“. Erst dadurch können die Entzündungszellen die Gefäßwand durchwandern und in das Parenchym des Gehirns einzudringen. Dort schädigen sie dann die Myelinschicht der Axone, was zu den Plaques, den typischen Läsionen der multiplen Sklerose und zum Untergang der Axone führt. Natalizumab verhindert den Austritt der Leukozyten aus den Blutgefäßen und die Axone bleiben vor den Attacken eines fehlgeleiteten Immunsystems verschont.
Dieses neue Wirkprinzip hat in klinischen Studien zu guten Ergebnissen geführt, die die von der FDA eingeladenen Experten so sehr beeindruckt, dass sie über die Risiken von Natalizumab hinwegsehen. Der Antikörper verhindert den Eintritt von Leukozyten in das Parenchym nämlich auch dann, wenn diese einen opportunistischen Krankheitserreger, das JC-Virus, bekämpfen sollen. Unter der Therapie mit Natalizumab kann es deshalb zu einer Infektion des Gehirns kommen, die dann eine progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML) zur Folge hat – eine schwerwiegende, häufig tödliche Erkrankung, für die es keine wirksame Behandlung gibt.
Die Rücknahme von Tysabri wurde durch zwei schwere PML-Erkrankungen ausgelöst. Später wurde ein dritter Fall bekannt. Zwei der drei Patienten sind gestorben, der dritte hat schwere Behinderungen erlitten. Inzwischen hat der Hersteller 3.116 Patienten nachuntersucht, die während der klinischen Studien (zur MS und zum Morbus Crohn, einer weiteren angestrebten Indikation) mit Tysabri behandelt wurden. Dabei wurden keine weiteren PML-Erkrankungen entdeckt. Die Autoren sagen ein PML pro 1.000 behandelter Patienten voraus, wobei die Rate durchaus höher sein kann, da die Infektionen nach durchschnittlich 17,9 Monaten Behandlung auftraten, die Behandlung mit Tysabri jedoch längerfristig durchgeführt wird (NEJM 2006; 354: 924-33).
Gegenüber der Presse sagten die Experte und auch Vertreter der FDA, man rechne fest mit dem Auftreten der PML-Erkrankungen, die mit einem Tysabri Outreach Unified Commitment to Health (TOUCH) genannten Risk management plan erfasst werden sollen. Geplant ist eine Registrierung von Ärzten und Patienten, die über Risiken aufgeklärt werden müssen. Dann sollen die Medikamente nur zentral abgegeben werden. Schließlich sollen alle neuen Fälle erfasst und umgehend an die FDA gemeldet werden, um der Behörde eine rasche Intervention zu ermöglichen, sollte es doch zu mehr PML-Fällen kommen, als derzeit angenommen wird.
Das positive Votum der externen Berater wurde durch die ebenfalls in der letzten Woche im New England Journal of Medicine publizierten 2-Jahresergebnisse zweier Zulassungsstudien ausgelöst. In einer Studie hatte eine Monotherapie mit Natalizumab die Krankheitsprogression um relativ 42 Prozent abgeschwächt (NEJM 2006; 354: 899-910). In der zweiten Studie hatte die Kombination aus Natalizumab mit einem Beta-Interferon die Krankheitsprogression gegenüber einer Monotherapie mit Beta-Interferon um 24 Prozent vermindert (NEJM 2006; 354: 911-23). Beide Studien belegen die gute Wirksamkeit des neuartigen Wirkstoffes, auch wenn streng genommen unklar ist, ob Natalizumab den Beta-Interferone (oder dem ebenfalls in der Indikation zugelassenem Wirkstoff Glatiramer) überlegen ist, da ein direkter Vergleich bisher nicht durchgeführt wurde.
Dennoch schätzen die US-Experten die Vorteile von Natalizumab offenbar so hoch ein, dass sie mit 7 gegen 5 Stimmen für die Zulassung von Tysabri als First-Line-Therapie, also ohne Vorbehandlung mit anderen Mitteln, votierten. Ob die FDA diese Ansicht teilt, wird Ende März feststehen. Dann fällt die Behörde ihre Entscheidung. Wenn sie dem Votum der Gutachter folgt, was in der Regel der Fall ist, dann wäre dies in der Geschichte der Behörde erst das zweite Mal, dass ein aus Sicherheitsgründen vom Markt genommenes Medikamente erneut eingeführt wird.
Das erste Mal war dies 2002 der Fall, als das Medikamente Lotronex® (Wirkstoff Alosetron) zur Behandlung des Colon irritabile wieder eingeführt wurde. Es war im November 2000 vom Markt genommen worden, nachdem es zu lebensgefährlichen und in einigen Fällen tödlichen Komplikationen (ischämische Colitis) gekommen war. Damals wie heute musste sich die US-Behörde nicht nur mit den sachlichen Bewertungen der Gutachter befassen, sondern auch mit den teilweise sehr emotional vorgetragenen Wünschen der Patienten sowie den Bedenken der Verbraucherschützer. /rme
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