Nachdem ich mir nun die Transkripte der FDA-Anhörung zur Wiedereinführung von Tysabri durchgelesen habe, möchte ich gerne vorstellen, was ich an den Texten interessant finde. Vielleicht interessiert das ja auch jemand anders oder vielleicht gibt es Interesse an einer Diskussion darüber. Würde mich freuen.

Der Querdenker hatte in diesem Forums-Beitrag auf die Transkripte hingewiesen: http://www.amsel.de/foren/index.php?kategorie=msforen&kategorie2=forum&tnr=1&mnr=19371&beitragnr=19487&aktpos_nav=21&thread_aktpos_nav=0&thread_showtheme=&archiv_flag=2

Dadurch bin ich überhaupt erst darauf aufmerksam geworden. Vielen Dank nochmal dafür an dieser Stelle.


Historischer Kontext

Aufgrund der guten Erfahrungen mit Natalizumab (früher: Antegren) in einer Phase-II-Studie (Publizierte Ergebnisse im NEJM vom 02.01.2003: http://content.nejm.org/cgi/content/full/348/1/15?ijkey=5a536e7088484cdf65d07cba2cc54c853343e055) wurden zwei große Phase-III-Studien mit jeweils etwa 1.000 Probanden anberaumt, die AFFIRM-Studie (http://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00027300?term=tysabri&rank=18) im November 2001 und die SENTINEL-Studie (http://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00030966?term=tysabri&rank=20) im Januar 2002. Zwei Drittel der Probanden in der AFFIRM-Studie erhielten Tysabri, ein Drittel ein Placebo. Zwei Drittel der Probanden in der SENTINEL-Studie erhielten Tysabri und Avonex, ein Drittel ein Placebo. Die Studien waren multizentrisch und wurden auch in Europa durchgeführt.
Außerdem wurde eine Studie für Patienten mit Morbus Crohn initiiert (http://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00032786?term=tysabri&rank=16, Auswertung im NEJM: http://content.nejm.org/cgi/content/full/353/18/1912).
Zusätzlich gab es eine sogenannte Open Label-Studie (http://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00276172?term=tysabri&rank=17), in der alle Probanden mitmachen durften, die eine der drei anderen Studien beendet hatten. In dieser Studie wurde ausschließlich Tysabri abgegeben.

Aufgrund der guten 1-Jahres-Ergebnisse der Studien wurde Tysabri im November 2004 für schubförmige MS von der FDA auf dem US-Markt freigegeben (http://www.fda.gov/bbs/topics/news/2004/NEW01141.html und http://www.fda.gov/cder/foi/nda/2004/125104s000_Natalizumab.htm).

Im Februar 2005 traten zwei Fälle von Progressiver Multifokaler Leukenzephalopathie (PML, siehe z. B. http://de.wikipedia.org/wiki/Progressive_multifokale_Leukenzephalopathie ) auf, was die Hersteller-Firma Biogen dazu bewegte, Tysabri vom Markt zu nehmen und die laufenden Studien zu stoppen (http://www.fda.gov/cder/drug/advisory/natalizumab.htm und http://www.fda.gov/bbs/topics/news/2005/NEW01158.html). Alle Konsumenten wurden daraufhin auf PML untersucht und ein weiterer Fall wurde entdeckt. Zwei Menschen starben an PML, eine 46-jährige Frau in der SENTINEL-Studie und ein 60-jähriger Mann in der Morbus-Crohn-Studie. Beide an PML erkrankten MS-Patienten waren in der SENTINEL-Studie, hatten also Tysabri und Avonex erhalten – was bei Anhängern von Tysabri die Vermutung nährte und nährt, dass Tysabri in Monotherapie sicher sein könnte.

Am 07.03.2006 und am 08.03.2006 trat auf Ersuchen der FDA ein Komitee zusammen, das eine reine Beratungsfunktion hatte und der FDA ein Gefühl dafür geben sollte, ob eine Wiedereinführung von Tysabri sinnvoll ist, und wenn ja, unter was für Bedingungen. Sowohl die FDA als auch Biogen hatten zu diesem Zweck umfangreiches Informationsmaterial zu MS, den bestehenden Basistherapien, der Geschichte von Tysabri sowie den Ergebnisse der Phase-III-Studien zusammengetragen und für das Komitee aufbereitet. Außerdem hatten beide, also Biogen und FDA, gemeinsam eine sogenannte Riskmap erarbeitet, ein Konzept für die Distribution von Tysabri mit diversen Sicherheitsvorkehrungen.

Diese Komitee-Sitzung ist mitgeschnitten worden, liegt als Transkript vor (Dienstag, 07.03.2006: http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/06/transcripts/2006-4208T1.pdf, im Folgenden von mir als T1 zitiert, und Mittwoch, 08.03.2006: http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/06/transcripts/2006-4208T2.pdf, im Folgenden von mir als T2 zitiert) und meine folgenden Anmerkungen drehen sich im Wesentlichen darum.

Die Folien, die auf der Komitee-Sitzung gezeigt worden, sind zum Teil zugänglich, aber soweit ich sehe leider nicht komplett: http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/06/slides/2006-4208S1-Slide-Index.htm.

Weitere FDA-Seiten, die in diesem Zusammenhang von allgemeinem Interesse sein könnten, sind diese: http://www.fda.gov/cder/drug/infopage/natalizumab/historical.htm und http://www.fda.gov/cder/drug/infopage/natalizumab/default.htm.


Die Komitee-Sitzung – Allgemeines

Auch wenn das Komitee ein Urteil darüber treffen sollte, ob Tysabri wieder eingeführt werden sollte, scheint mir das ganze Setting eine eindeutige Antwort von vornherein nahegelegt zu haben. FDA und Biogen waren sich schon vor der Sitzung einig, dass Tysabri unter bestimmten Sicherheitsvorkehrungen wieder auf den Markt gebracht werden sollte. Entsprechende Unterlagen hatten sie mit ziemlich großem Aufwand erarbeitet. Das Komitee hat entsprechend auch nicht lange über die Frage des OB diskutiert, sondern im Wesentlichen nur über die Frage des WIE. Das erscheint mir persönlich allerdings auch angemessen.

Das Komitee setzte sich mit Ausnahme der Patientenvertreterin Ms. Sitcov ausschließlich aus Ärzten zusammen. Allerdings waren nicht alle Komitee-Mitglieder mit MS vertraut, wenn auch die meisten. Das Komitee war mit 12 Menschen besetzt. Der Ablauf war im Überblick etwa folgender:
Dienstag-Vormittag bis frühen Nachmittag:

  • Darstellung der wesentlichen Infos über MS und Tysabri durch Biogen
  • Darstellung der wesentlichen Infos über MS und Tysabri durch die FDA
    Dienstag Nachmittag:
  • Öffentliche Anhörung: Beiträge von MS-Patienten bzw. Familienangehörigen, Vertretern von Verbänden, Ärzten
    Mittwoch:
  • Diskussion des Komitees über die Bedingungen der Wiedereinführung anhand einer von der FDA vorgegebenen Liste von Fragen, teilweise Nachfragen an Biogen und FDA, teilweise ausgezählte Abstimmungen über bestimmte Fragen

Ich habe die Lektüre der Sitzung am Mittwoch teilweise als langweilig empfunden, weil es phasenweise sehr technische Diskussionen darüber waren, wie die Zusammenarbeit zwischen FDA, Biogen, behandelnden MS-Kliniken, behandelnden Neurologen und Patienten im Rahmen des Sicherheitsprogramms aussehen soll.

Die Referate der Biogen-Vertreter und der FDA-Vertreter sind sicherlich sehr interessant für Leute, die sich noch nicht eingehend mit der ganzen Problematik befasst haben. Für mich enthielten sie wenig Neues. Bemerkenswert finde ich allerdings, dass die Vorträge von den FDA-Vertretern sehr stark denen der Biogen-Vertreter ähneln. Offenbar haben sich beide unabhängig voneinander auf die Sitzung vorbereitet und dabei auf die selben Daten zurückgegriffen. Dadurch gibt es etliche Wiederholungen. Die FDA hat jedenfalls bestätigt, dass die von den Biogen-Forschern am 2. März 2006 im NEJM veröffentlichten Studienergebnisse (AFFIRM: http://content.nejm.org/cgi/content/full/354/9/899, SENTINEL: http://content.nejm.org/cgi/content/full/354/9/911) korrekt sind. Die FDA hatte selbst Zugriff auf die Rohdaten. Dr. McDermott von der FDA sagt dazu:
„Was ich Ihnen geradeheraus erzählen sollte ist, dass unsere Statistikerin Dr. Sharon Yan die Rohdaten vom Sponsor genommen und selbständig analysiert hat, entsprechend des Protokolls nach primärem Resultat und dem wichtigsten sekundären Resultat, jährliche Schubrate. Ihre Analyse stimmt mit der des Sponsors überein.“ (T1, Seite 143, Zeilen 5 bis 11, Übersetzung von mir) Biogen wird in dem gesamten Dokument als Sponsor bezeichnet. Ich nehme an, dass Biogen für die Kosten der Komitee-Sitzung aufgekommen ist und deshalb als Sponsor tituliert wird.

Was ich teilweise wirklich bewegend fand, waren die Beiträge der Öffentlichkeit am Dienstag-Nachmittag. Ich kann mir gut vorstellen, dass mir da ein paar Mal Schauer über den Rücken gelaufen wären, wenn ich anwesend gewesen wäre. Die allermeisten Beiträge waren davon getragen, den persönlichen Alltag mit MS zu schildern und darum zu bitten/darauf zu bestehen, dass die Patienten selbst darüber bestimmen können sollten, ob sie Tysabri trotz des Risikos von PML nehmen wollen oder nicht. Viele haben über die Auswirkungen von Tysabri auf ihren Krankheitszustand berichtet und von deutlichen Verbesserungen unter Tysabri gesprochen. Als Beispiel sei Frau Miller zitiert, die nach eigenen Angaben eine Reduktion um 4 Punkte auf der EDSS-Skala erfahren hat:
„Ohne Tysabri habe ich – an einem guten Tag – eine 5,5 auf der Behinderungs-Skala, auf Krücken schaffe ich ungefähr 10 Schritte, mit Aussicht auf Chemotherapie.
Mit Tysabri ist es ein völlig neuer Tag. Ich habe eine 1,5 auf der EDSS-Skala. Ich war für 10 Meilen auf meinem Fahrad, mit Aussicht auf die vorausliegende Straße.“ (T1, Seite 289, Zeilen 1 bis 6, Übersetzung von mir)
Neben den Erfahrungsberichten gab es vereinzelte Beiträge, die sich gegen eine Wiederzulassung von Tysabri aussprachen, zwei oder drei Beiträge waren das von den insgesamt 40 Beiträgen. Ein Arzt meinte, es gebe ausreichende Therapiemöglichkeiten und Tysabri sei zu gefährlich.
Ansonsten gab es noch zwei oder drei Redebeiträge zur Geschichte von Anita Smith, die in der SENTINEL-Studie an PML verstarb. Darauf werde ich unten etwas ausführlicher eingehen.

Die Lektüre der Beiträge der Öffentlichkeit fand ich ziemlich beeindruckend. Der Tenor war ganz anders als das, was man meistens hier im Forum lesen kann: Es gab einen sehr emphatischen, sehr emotionalen Einsatz FÜR das Medikament. Das ist natürlich auch der Situation geschuldet, schließlich ging es bei der Komitee-Sitzung darum, ob Tysabri wieder zugelassen wird oder nicht. Und selbstverständlich werden auch nur diejenigen nach Gaithersburg, Maryland gepilgert sein, die auch wirklich ein großes Interesse an Tysabri hatten. Dennoch fand ich die Beiträge wirklich beeindruckend und deshalb auch bemerkenswert.

Überhaupt fand ich den freundlichen und höflichen Umgang miteinander im gesamten Transkript sehr angenehm – aber das ist in englischsprachigen Gebieten offenbar auch einfach üblicher als hierzulande.


PML

Interessant finde ich die Frage, welche Motive bei Biogen eine Rolle dabei spielten, Tysabri vom Markt zu nehmen. Darüber lässt sich selbstverständlich nur spekulieren. Offenbar gab es aber die Furcht, dass PML eine relativ häufige Langzeitwirkung von Tysabri sein könnte. Nachdem alle Patienten darauf untersucht worden waren und „nur“ ein weiterer Fall entdeckt worden war, hat man sich offenbar überlegt, dass das relativ geringe Risiko von 1 zu 1000 einen Einsatz von Tysabri nicht verhindern muss. Das Komitee ging jedenfalls selbstverständlich davon aus, dass einer von tausend, vielleicht sogar einer von hundert mit Tysabri behandelten Patienten innerhalb kurzer Zeit an PML sterben würde. Die Frage, ob Tysabri wieder eingeführt werden sollte, reduzierte sich für das Komitee sozusagen wesentlich auf die Frage, ob es für die Vorteile von Tysabri akzeptabel wäre, jeden 1000. Patienten sterben zu lassen. Um das an einem Zitat zu belegen, so sagt Dr. Katz ziemlich früh am Dienstag:
„Nichtsdestotrotz, solange wir Risikofaktoren nicht identifizieren können oder Tests entwickeln können, die verlässlich eine Behandlung erlauben, welche einen Fortschritt oder einen Ausbruch von PML aufhält – und ich sollte hinzufügen, dass wir nicht denken, dass solche Tests im Moment zur Verfügung stehen –, solange wird es weitere Fälle von PML geben und vielleicht viele Fälle. Und es wird wahrscheinlich eine erhebliche Sterblichkeit geben, die mit der Einnahme des Medikaments zusammenhängen wird. Und dies ist eine Tatsache, von der ich nicht glaube, dass sie sich unbedingt verändert aufgrund dessen, was Sie heute und morgen hier hören werden. Und es ist eine Tatsache, die von den Patienten, von deren Familien und von denjenigen, die das Medikament verordnen, sehr ernsthaft berücksichtigt werden muss.“ (T1, Seite 19, Zeilen 10 bis 21, Übersetzung von mir)

„Tysabri wird den Tod von einigen, auf Dauer vielleicht sogar von vielen MS-Patienten bedeuten.“ Diese Vorstellung prägte die Sitzung von Anfang bis Ende. Glücklicherweise ist diese Vorstellung bislang meines Wissens nicht zur Realität geworden. Das könnte aber auch daran liegen, dass Tysabri vielleicht erst eine ganze Weile eingenommen werden muss, damit das PML-Risiko steigt, und es ist ja erst seit März 2006 wieder freigegeben worden. Der an PML verstorbene Morbus-Crohn-Patient hatte 8 Dosen bekommen und eine lange Immunsuppressions-Therapie-Geschichte hinter sich, die beiden MS-Patienten mit PML hatten 28 bzw. 37 Dosen erhalten, waren also mehr als zwei Jahre oder sogar drei Jahre dem Wirkstoff ausgesetzt. Das heißt, dass wir uns vielleicht im Moment (Dezember 2007) noch gar nicht wieder in der heißen Phase befinden und erst so in ein bis zwei Jahren neue PML-Fälle auftauchen. Ich hoffe es nicht, aber möglich wäre es.

Die weitverbreitete Vorstellung jedenfalls, dass die PML-Gefahr nur durch die Kombinationstherapie gemeinsam mit Avonex ausgelöst worden sei, wird vom Komitee allgemein nicht geteilt. So richtet der Moderator Dr. Kieburtz die Frage 4 des von der FDA vorbereiteten Fragebogens paraphrasierend an das Komitee:
„Frage 4 ist im Wesentlichen: Glaubt das Komitee, dass das Risiko von PML auf die Patienten beschränkt ist, die mit einem zweiten immunsuppresiven Medikament behandelt werden? Mit anderen Worten: Denken Sie, dass das Risiko vollständig entschärft wird, wenn das Medikament als Monotherapie gegeben wird? So verstehe ich die Frage. Gibt es irgendjemanden, der diese Frage bejahen würde?“ (T2, Seite 74, Zeile 20 bis Seite 75, Zeile 4, Übersetzung von mir) Niemand antwortet auf diese Frage von Dr. Kieburtz, keiner würde sie also bejahen. Das erscheint mir auch insofern ganz logisch, da der verstorbene 60-jährige Morbus-Crohn-Patient zumindest während der Studie nur Tysabri eingenommen hatte – auch wenn er eine lange Geschichte der Einnahme von Immunsuppressiva hinter sich hatte, die bei ihm zu einem krankhaften Lymphozytenmangel geführt hatte (vgl. z. B. T1, Seite 61, Zeilen 14 bis 21). Dieser krankhafte Lympozytenmangel könnte selbstverständlich auch der Grund dafür sein, dass dieser Patient schon nach 8 Tysabri-Dosen PML bekam, während die beiden anderen weit über 20 Dosen bekommen hatten.

Es gibt zwei riesige Probleme mit PML. Das eine ist, dass die Symptomatik sich von MS-Symptomen im Prinzip nicht unterscheidet. Es ist also nahezu unmöglich zu diagnostizieren, ob ein MS-Patient einen Schub hat oder eine beginnende PML. Klingt der Schub allerdings nicht ab, sondern wird dramatischer, lässt sich ab einem gewissen Punkt vermuten, dass es sich um PML handelt. Dann ist es aber in der Regel auch schon ziemlich spät, die PML soweit fortgeschritten, dass bleibende Schäden kaum noch verhindert werden können.
Das zweite Riesenproblem besteht darin, dass es keine Therapie gegen PML gibt. Man kann nur die Infusionen mit Tysabri einstellen und hoffen, dass der Körper sich selbst hilft. Außerdem gibt es experimentelle Therapiemöglichkeiten, die wohl aber alle nicht sehr überzeugend sind.

Zu dem ersten Riesenproblem gibt es eine sehr kurze, geradezu kryptische Diskussion. Anscheinend ist der Kenntnisstand in Bezug auf PML wirklich ziemlich mickrig.
„DR. KIEBURTZ: Es gab da eine Diskussion oder einige Spekulationen dazu, dass wenn es eine Teilmenge von Symptomen gäbe, die charakteristisch für PML sind, dass diese von den Zeichen oder Symptomen eines MS-Schubs unterschieden werden könnten. Ich glaube, Sie, Dr. McArthur, erwähnten zumindest, dass das ein sehr schwieriges Unterfangen wäre, weil nahezu jedes Symptom für beides sprechen könnte.
DR. McARTHUR: Ich denke, nahezu alles mit der Ausnahme einer Sehnerventzündung könnte beides sein.
DR. KIEBURTZ: Myelopathie (Rückenmarkszerstörung) vielleicht.
Dr. McARTHUR: Nun, Myopathie (Muskelerkrankungen), aber ich denke, von einem symptomatischen Standpunkt aus ist es sehr schwierig, nur anhand der Symptome keine Lokalisation abzugrenzen.“ (T2, Seite 232, Zeile 18 bis Seite 233, Zeile 10, Übersetzung von mir) Ich verstehe die letzte Bemerkung von Dr. McArthur nicht so ganz, würde aber vermuten, dass bei mit Myopathie einhergehenden MS-Schüben Herde im Rückenmark lokalisiert werden können, während das bei PML vielleicht nicht der Fall ist. Ich weiß es aber nicht, ich bin kein Arzt.

Ein weiteres mögliches Unterscheidungsmerkmal zwischen MS-Schub und PML scheint die Reaktion auf eine Gabe von Kortison zu sein. PML-Patienten reagieren auf Kortison nicht (vgl. T2, Seite 239, Zeilen 7 bis 22). Bedenkt man aber, dass auch nur ein relativ geringer Teil der MS-Schübe wirklich durch Kortison abgemildert wird, ist das auch kein besonders starkes Unterscheidungskriterium. Aber es sollte einem vielleicht zu denken geben: Ist man auf Tysabri, hat einen Schub und spricht nicht auf Kortison an, dann sollte man intensiver über PML nachdenken.

Ohne die wenig überzeugt geführte Diskussion über mögliche experimentelle Therapievarianten gegen PML wiederzugeben, möchte ich zu dem zweiten Riesenproblem zumindest diese Frage von Dr. Goldstein und die zugehörige Antwort von Dr. Panzera (Biogen-Vertreter) wiedergeben:
„DR. GOLDSTEIN: […] Wir geben eine Menge darauf, die PML-Fälle frühzeitig zu entdecken und die Tysabri-Infusionen in diesen Fällen zu stoppen. Woher wissen wir, dass dies den Krankheitsverlauf in irgendeiner Weise beeinflussen wird?
DR. PANZARA: Die besten existierenden Daten stammen momentan aus den Erfahrungen mit HIV-Patienten, aber das ist nicht exakt übertragbar. Weitere Erfahrungen existieren mit Transplantations-Patienten, aber die gemachten Serien waren klein.
Es gibt typischerweise Fallserien von 25, 10 bis 25 Patienten, und eine lange Liste von Einzelfallberichten. Diese Daten legen nahe, dass es einen Anstieg der Überlebensrate geben kann, wenn die immunsuppressiven Therapien unterbrochen werden.
Wobei die Wirkstoffarten aus diesen Berichten selbstverständlich nicht Natalizumab waren, sondern solche Wirkstoffe wie Azathioprin und Ciclosporin. Gemessen an den unternommenen Fall-Serien überlebten unter diesen Umständen etwa ein Drittel der Patienten. Und bei denen, die überlebten, war es nahezu einheitlich so, dass sie eine Verringerung ihrer Immunsuppression hatten.
Das sind wirklich die einzigen Berichte, die in diesem Bereich existieren.“ (T1, Seite 351, Zeile 13 bis Seite 352, Zeile 13, Übersetzung von mir)

Angesichts dieser Situation kommt in der Diskussion des Komitees ziemlich gut heraus, dass die Sicherheitsmaßnahmen relativ hilflos dabei sein werden, individuell von PML Betroffenen so schnell wie möglich zu helfen. Jeder Schub soll zu einer (kurzfristigen) Unterbrechung der Therapie und einer anschließenden ärztlichen Untersuchung führen. Der behandelnde Neurologe soll dann entscheiden, ob es Anzeichen für PML gibt oder ob es sich „nur“ um einen Schub handelt. Aber wie gesagt: Es scheint nahezu unmöglich, das voneinander zu unterscheiden. Das Komitee baut in diesem Zusammenhang im Wesentlichen auf zwei Sachen: Erstens sind sich die Patienten der Gefahr von PML durch therapiebegleitende Aufklärung bewusst und beobachten ihren Körper sehr genau. Letztlich weiß der Patient am besten, wie sein Körper reagiert und was für Ausfälle oder Schübe typisch sind. Ein Problem sind hierbei aber selbstverständlich neu auftretende Schubsymptome, die eben auch PML sein könnten. Zweitens beeinträchtigt PML nachhaltiger, also langfristiger und schneller schlimmer werdend, während die Schübe eher vorübergehender Natur sind.
Das Komitee gibt keinen Rat dazu, wie ein Neurologe im Einzelfall entscheiden soll – und auch aus den Unterlagen zur Riskmap geht meines Erachtens keine konkrete Handlungsanweisung hervor. Das Komitee geht also einfach davon aus, dass aufgeklärte Ärzte und Patienten selbständig das Beste machen können, um PML frühzeitig zu erkennen. Da aber alle relativ hilflos dabei sind, PML zu erkennen, wird dieses Beste in der Praxis vermutlich nicht sehr gut sein.

Der zweite Zweck des Sicherheitsprogramms steht daher eigentlich fast noch mehr im Vordergrund: Relativ schnelle Rückmeldung von PML-Fällen an Biogen. Wobei schnell in diesem Zusammenhang bei ungünstigen Rahmenbedingungen durchaus auch ein halbes Jahr bedeuten kann. Steigt die Anzahl der PML-Fälle deutlich über die anvisierte Quote von 1 zu 1000, muss das Komitee gegebenenfalls erneut zusammentreten, um über den weiteren Umgang mit Tysabri zu beraten. Ab wann das sein wird, bleibt unklar, Dr. Kieburtz dazu:
„Ich denke, wir trafen unsere Entscheidungen aufgrund der Auffassung, dass der ungefähre Punkt von 1 zu 1000 etwa richtig sein wird. Und wenn es gehäuftere Erfahrungen gibt, die diesen Punkt deutlich nach oben verschieben, wäre es meines Erachtens vernünftig, diese Diskussion neu zu bewerten. Was meint deutlich nach oben? Ich weiß es nicht, aber wir werden es wissen, wenn wir es sehen.“
Ich hoffe, dass Biogen jeden bestätigten PML-Fall nicht nur zeitnah an die FDA berichten wird, sondern auch an die Öffentlichkeit. Das Komitee hat dazu, soweit ich sehe, keine Vorschläge gemacht, ist aber wohl selbstverständlich davon ausgegangen. Transparenz des gesamten Umgangs mit diesem Medikament wurde immer wieder als überaus wichtig betont.


Anita Smith – PML, aber doch keine MS

Die Frau, die in der SENTINEL-Studie an PML verstarb, hieß Anita Smith und war 46 Jahre alt. Es gibt einen eigenen Bericht im NEJM zu ihrem Fall: http://content.nejm.org/cgi/content/full/353/4/369
Sie erhielt 37 Dosen Tysabri. Im November 2004 setzte die PML-Symptomatik ein, sie wurde im Dezember und Januar mit zwei Kortison-Stoßtherapien behandelt und verstarb am 24. Februar 2005, also etwa ein Vierteljahr nach Symptomauftritt. Sie verlor bereits ab Dezember zunehmend die Kontrolle über ihren Körper, ihre Erinnerung und ihr Denken, wurde aber erst am 12. Februar endgültig ins Krankenhaus aufgenommen.

Mehrere der Redebeiträge im Rahmen der öffentlichen Anhörung am Dienstag Nachmittag drehten sich um Anita Smith. Zuerst sprach ihre Tochter, die einen Brief von ihrem Vater, also Anitas Mann vorlas, den ich zitierenswert finde:
„Ich bin hier, um Ihnen kurz über meine Frau, Anita Smith, zu berichten. Viele von Ihnen haben über Anita in medizinischen Fachzeitschriften oder Zeitungsartikeln gelesen. Anita starb aufgrund von PML, verursacht durch Tysabri. Tysabri wurde wegen Anitas Tod vom Markt genommen. Ich habe wegen dieses Medikaments meine Frau verloren, meinen besten Freund in der ganzen Welt. Meine Kinder haben eine Mutter verloren, die sie liebten und die sie innig liebte.
Bevor sie Tysabri nahm, arbeitete Anita vollzeit. Sie war eine aktive, voll im Leben stehende Person. Sie war nicht behindert, sie wirkte nicht krank. Es ging Anita im Grund gut.
Ab dem Jahr 2000 nahm Anita Avonex. Es kostete uns 1.000 Dollar im Monat. 2002 wurde uns erzählt, dass Anita an einer Studie teilnehmen könnte, in der sie Avonex und ein weiteres Medikament, Tysabri, bekommen könnte, ohne dass wir für eines der beiden Medikamente oder die Behandlung bezahlen müssten.
Uns wurde erzählt, dass Biogen die Rechnung für uns übernehmen würde. Uns wurde niemals erzählt, dass Tysabri Anitas Tod verursachen könnte. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir uns glücklich von der Studie ferngehalten.
Ich verstehe, dass diese Sitzung dazu dienen soll zu entscheiden, ob Tysabri wieder auf den Markt gebracht werden sollte und ob klinische Studien über Tysabri über das Maß hinaus erlaubt werden sollten, in dem sie bereits erlaubt sind.
Ich bin hier mit Dr. Gregory Shoukimas aus Boston, der über die medizinische Geschichte meiner Frau besser sprechen kann als ich. Die einzige Sache, die er Ihnen nicht beschreiben kann, ist, wie gebrochen das Herz meiner Familie darüber ist, dass Tysabri jemals in unser Leben getreten ist.“ (T1, Seite 223, Zeile 20 bis Seite 225, Zeile 7, Übersetzung von mir)

Anita Smith hat also nur aus ökonomischen Gründen an der Studie teilgenommen. Die Schilderung ihres sehr guten Gesundheitszustands vor Ausbruch der PML stimmt mit dem überein, was im NEJM-Bericht steht. Für eine Eskalation der Therapie gab es also überhaupt keinen Anlass, vielleicht nicht einmal für eine Basistherapie mit Avonex.
Dass Ms. Smith aber nicht über die möglichen Risiken eines Test-Medikaments aufgeklärt wurde, erscheint mir allerdings nicht sehr wahrscheinlich, vielleicht hat nur ihr Mann nichts davon mitbekommen oder sie haben es nicht so ernst genommen und einfach gedacht „Wird schon nicht so schlimm werden.“. Ich vermute, dass Ms. Miller, eine MS-Erkrankte, die sich ebenfalls während des Teils der öffentlichen Anhörung zu Wort meldete, darauf Bezug nehmen wollte, als sie auf die Standardeinverständniserklärung verwies:
„Ich würde es bevorzugen, nicht das Risiko auf mich zu nehmen, hierher zu kommen und öffentlich zu sprechen. Ich würde es bevorzugen, nicht an einer Medikamentenstudie teilzunehmen mit – und ich zitiere hier das Standardeinverständniserklärungs-Formular – „Risiken, die die Möglichkeit des Todes und von Nebenwirkungen einschließen, die bislang nicht bekannt sind“.
Ich würde es bevorzugen, nicht das Risiko einzugehen, PML zu haben.
Also, warum würde ich, nur um hier für zweieinhalb Minuten zu sprechen, drei Tage ausruhend verbringen, meinen Ehemann von 3 Uhr bis 7 Uhr heute Morgen an meinen Muskeln und Sehnen arbeiten lassen und es risikieren, die nächsten Wochen bettlägerig zu sein?
Warum willigte ich am 4. November 1997 ein, der 32. Mensch zu sein, der an der frühen Phase-II-Studie des damals noch Antegren genannten Medikaments teilnahm?
Warum habe ich 15.000 Dollar meiner Ersparnisse am 28. Februar 2005 für ein Medikament ausgegeben, das vom Markt genommen wurde?
Also, warum würde ich Tysabri nehmen und heute hier sein? Um der medizinischen Wissenschaft zu helfen, der MS-Bevölkerung zu helfen, um eine Chance zu haben, wieder Rechtsethik zu unterrichten, um eine Dusche zu nehmen, ohne dass jemand in der Nähe sein muss, falls ich fallen sollte, um mit der Überzeugung schlucken zu können, dass ich nicht an meinem eigenen Speichel ersticken werde, um zu lesen und zu erinnern, um die Umarmung meiner Nichte zu fühlen.“ (T1, Seite 287, Zeile 11 bis Seite 288, Zeile 14, Übersetzung von mir)

Ich denke, dass dieser Beitrag ein ganz gutes Gefühl dafür gibt, wieviel Pathos vor allem in dem Teil der öffentlichen Anhörung zu Gehör gebracht wurde. Nebenbei sei erwähnt, dass alle Einzelpersonen nur drei Minuten Redezeit hatten und alle Vertreter von Organisationen nur fünf Minuten.

Zurück zu Anita Smith. Dr. Shoukimas Beitrag fasst im Wesentlichen zusammen, dass Anita Smith nahezu keine Beeinträchtigungen hatte und dass ihre MS-Diagnose auf sehr wackligen Füßen stand. Sie hatte zwar Herde auf MRT-Bildern, diese seien aber nicht besonders MS-spezifisch gewesen und könnten auch mit ihrer langjährigen Migräne zusammengehangen haben. Nach den McDonald-Kriterien habe sie keine MS gehabt. Ich zitiere die letzte Passage seines Redebeitrags:
„Nachdem sie auf zwei potente immunsuppressive und immunmodifizierende Medikamente eingestellt wurde, war sie ein Patient mit minimaler Symptomatik, dessen Diagnose fragwürdig war. Ihr wurden die Medikamente gegeben und Progressive Multifokale Enzepahlophathie entwickelte sich und bewirkte ihr Ableben.
Die Aufnahme von Anita Smith in eine klinische Studie mit diesen beiden Medikamenten ist nahezu unfassbar und wirft sicherlich gravierende ethische Bedenken über Biogen Idecs Aufnahmeverfahren auf.
Die FDA hat bereits entschieden, dass neue klinische Versuche mit Tysabri unternommen werden dürfen. Wenn wir den Aufnahmeprozess von Anita Smith untersuchen, müssen wir die Frage aufwerfen und die ernsthaften Bedenken untersuchen, dass Biogen Idec nicht im Stande ist, in einer sicheren Weise zukünftige klinische Studien durchzuführen. Offensichtlich nahmen sie Anita Smith in diese Studie auf, ließen sie sie zu.
Der Aufnahmeprozess von Anita Smith könnte auf einen systematischen Versuch hinweisen, fragwürdige Patienten aufzunehmen. Deshalb müssen die Studienergebnisse, die Biogen Idec in jüngsten Aufsätzen breit publiziert hat, in Frage gestellt werden, wenn dieser Aufnahmeprozess (von Anita Smith) in Frage gestellt wird.
Anita Smiths Tod hat in der Literatur zu einer intensiven Untersuchung geführt. Ihr Autopsiebericht zeigt an, dass sie keinen histopathologischen Beleg für MS hatte. Stattdessen zeigte der Bericht weit verstreute PML und Belege für eine mögliche Vaskulitis.
Das MRT, das zu Beginn der Studie gemacht wurde und das mir auf Gerichtsanordnung ausgehändigt wurde, war für das New England Jounal of Medicine nicht verfügbar als der Bericht über ihre Krankheitsgeschichte und ihr letztendliches Ableben abgefasst wurde. Das British Medical Journal und Lancet haben kürzlich Artikel veröffentlicht, die ebenfalls die Frage stellen, ob Anita Smith wirklich MS hatte oder nicht und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass dieses Medikament fortgesetzt bei Patienten benutzt wird, die vielleicht keine passenden Kandidaten für die Nutzung sind, einschließlich der Möglichkeit des Todes.
Das ist der Grund, warum Anita Smiths Fall heute so wichtig für das Komitee ist: Das Komitee muss, wie viele andere Experten es bereits taten, die schwerwiegenden Verwicklungen in Betracht ziehen, wie und warum Anita Smith in die Studie aufgenommen wurde und wie möglicherweise auch andere Patienen aufgenommen wodern sind, insbesonder da neue klinische Studien von Biogen Idec und die mögliche Anerkennung von Tysabri für den klinischen Gebrauch erwartet werden.“ (T1, Seite 229, Zeile 21 bis Seite 232, Zeile 4, Übersetzung von mir)

Es ist also die fachmännische Meinung von Dr. Shoukima, dass die Aufnahme von Anita Smith in die SENTINEL-Studie einen Skandal darstellt und vielleicht nur die Spitze des Eisbergs eines viel größeren Skandals, nämlich einer systematischen Verzerrung der Studie durch Biogen, indem sehr gesunde MS-Patienten aufgenommen wurden oder sogar Leute, die gar keine MS hatten. Es ist etwas verblüffend, dass das Komitee auf den Fall von Anita Smith im Folgenden gar nicht zu sprechen kommt. Zumindest eine halbherzige Stellungnahme der Biogen-Vertreter hätte ich angemessen gefunden. Ich bin gleichwohl nicht der Meinung, dass ein einziger Fall ausreicht, um Dr. Shoukimas Vorwürfe ausreichend zu belegen. Dass Anita Smith MS hatte, ließ sich wohl möglicherweise auch deshalb im Rahmen der Autopsie nicht nachweisen, weil die unzähligen PML-Läsionen, die möglicherweise vorher bestandenen MS-Läsionen aufgefressen/überlagert haben. Und dass auch sehr gesunde Patienten mit Diagnose zu Studien zugelassen werden, wenn sie denn damit einverstanden sind, erscheint mir ethisch vertretbar zu sein: Schließlich dienen die Studien ja dazu, einen breiten Ausschnitt aus der Kranken-Bevölkerung auf die Wirkung des Medikaments hin zu testen. Der eigentliche Skandal scheint mir eher in der Struktur eines Gesundheitssystems zu liegen, das die medizinischen Kosten nicht solidarisch gesellschaftlich auffängt, sondern als Privatangelegenheit jedes einzelnen behandelt. Ich halte es nicht für ethisch akzeptabel, dass Leute aus ökonomischen Gründen gezwungen oder doch zumindest stark verleitet werden, an Studien teilzunehmen.

Der letzte Redebeitrag zu Anita Smith, wesentlich später am Nachmittag, stammt von einem Dr. Godec, der von Anitas Mann Walter beauftragt wurde, die Krankenakten zu sichten. Er rekapituliert noch einmal den guten Gesundheitszustand von Anita Smith und die Zweifelhaftigkeit der MS-Diagnose. Interessant ist sein Redebeitrag hinsichtlich zweier Punkte, nämlich des Verdachts der Bestechung von Neurologen durch Biogen und der Anzahl der Herde von Anita Smith zu Beginn der Studie:
„Trotz der fragwürdigen Diagnose einer MS nahmen Biogen und Elan Ms. Smith im April 2002 in die SENTINEL-Studie auf. Es ist wahrscheinlich, dass Biogen und Elan den praktizierenden Ärzten substantielle monetäre Gratifikationen für jeden Patienten in Aussicht stellten, der in die Studie aufgenommen wurde.
Biogen und Elan berichteten im New England Journal of Medicine, dass Ms. Smiths MRT-Aufnahme zu Beginn der Studie neun mit MS in Einklang stehende Läsionen aufwies, um ihre Aufnahme in die Studie zu rechtfertigen. Nach Aussage von Dr. Shoukimas, den Sie vorhin gehört haben, zeigt diese MRT-Aufnahme in Wirklichkeit nur vier oder fünf unspezifische Läsionen.“ (T1, Seite 318, Zeile 17 bis Seite 319, Zeile 7, Übersetzung von mir)


Opportunistische Infektionen

Ich frage mich schon seit ich das erste Mal auf diese Formulierung stieß: Was ist mit diesen „opportunistischen Infektionen“ gemeint? Dass PML eine dieser Infektionen ist, war klar, aber was gibt es sonst noch für welche?

Ich hätte es bereits wissen können als ich im Spätsommer die Folien von Dr. Panzera angeschaut hatte, die er auf der Anhörung vorstellte (Vgl. http://www.fda.gov/ohrms/dockets/ac/06/slides/2006-4208S1-01-02-%20Biogen-Panzara.pdf, Seite 55 bis 60 (19 bis 24 nach Adobe-Zählung), insbesondere Seite 59 (Seite 23 nach Adobe-Zählung)). Aber irgendwie habe ich das nicht richtig registriert oder mir zumindest nicht gemerkt. Anhand des Transkripts der Anhörung lässt sich aber mit Hilfe des Vortrags von Dr. Panzera von Biogen und Dr. Alice Hughes von der FDA ein sehr genaues Bild der aufgetretenen opportunistischen Infektionen zeichnen.

Dr. Alice Hughes bevorzugt es übrigens, diese Infektionen atypisch zu nennen (vgl. T1, Seite 161, Zeilen 17 bis 20).

Da ich keine medizinische Ausbildung habe, liste ich die opportunistischen Infektionen mit ihrem englischen Namen und dem Versuch einer Übersetzung, soweit mir möglich. Ich kann nicht ausschließen, dass ich mich bei den Übersetzungen irre.

Alle diese Fälle tauchten nur ein einziges Mal auf.

Bemerkenswert ist, dass anscheinend alle diese Infektionen in der Morbus-Crohn-Studie auftraten, mit Ausnahme der cryptosporidialen Gastroenteritis und der beiden PML-Fälle. Dr. Alice Hughes sagt dazu erst:
„In den Langzeitstudien zu Morbus Crohn war es, wo wir die atypischen Infektionen gesehen haben, wie der Sponsor erwähnt hat. Dort gab es sechs ernsthafte atypische Infektionen der unteren Atemwege“ (T1, Seite 165, Zeilen 8 bis 11, Übersetzung von mir)
Und später:
„Nochmal, in den MS-Studien gab es nur eine atypische Infektion, die cryptosporidiale Gastroenteritis” (T1, Seite 203, Zeilen 16 bis 18, Übersetzung von mir).

Interessant sind auch diese beiden Absätze aus der Rede von Dr. Alice Hughes:
„Ich sollte erwähnen, dass von diesen sechs Fällen zwei der Patienten keinerlei immunsuppressive oder andere immunmodulatorische Medikamente eingenommen haben. Der Rest der Patienten bekam allerdings Kortikoide oder Azathioprin oder eine Kombination von beiden.
Ich möchte auch bemerken, dass diese Infektionen nach einer unterschiedlichen Anzahl von Natalizumab-Infusionen auftraten, zwischen 3 und 34 Dosen, und dass es keine klare Beziehung zwischen der Anzahl der Natalizumab-Infusionen und dem Risiko einer atypischen Infektion gibt, obwohl dies sicherlich aus einer sehr kleinen Anzahl von Fällen bzw. Infektionen in der Gesamtheit abgeleitet ist, wie der Sponsor bereits herausgestellt hat.“ (T1, Seite 166, Zeilen 2 bis 15, Übersetzung von mir)

Ich kenne mich zwar mit Morbus Crohn nicht aus, aber bei Wikipedia steht zumindest, dass neuere Studien darauf hinweisen, dass Patienten mit Morbus Crohn ohnehin immungeschwächt sein könnten. Insofern würde ich dieses Ergebnis nicht automatisch auf MS übertragen. Man könnte ja z. B. argumentieren, dass sich aus den Studien ableiten lasse, dass das Auftreten opportunistischer Infektionen nicht von der Anzahl der Infusionen abhängt und dass daher die PML-Gefahr in Monotherapie nicht existiere, weil es sonst bereits erneute Fälle gegeben haben müsse. Die MS-Fälle geben eine solche Folgerung jedenfalls nicht her und von daher würde ich die Gefahr zukünftiger PML-Fälle nicht als gebannt ansehen (obwohl ich früher in diesem Forum anderes von mir gegeben habe: Meine Meinung hat sich in diesem Punkt durch die Lektüre des Transkripts verändert.)

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, erwähne ich, dass opportunistische Infektionen nur einen Teil der Nebenwirkungen von Tysabri abdecken. Mit den anderen befasse ich mich aber an dieser Stelle nicht, da ich das an anderer Stelle bereits getan hatte.


Überempfindlichkeitsreaktionen

Die allermeisten Überempfindlichkeitsreaktionen tauchten bei der zweiten Infusion auf. Dazu Dr. Alice Hughes von der FDA:
„Die meisten Überempfindlichkeitsreaktionen traten während oder unmittelbar nach der zweiten Infusion auf, aber einige traten später auf. Ein Fall einer Anyphylaxie trat im Zusammenhang mit der 13. Infusion auf.“ (T1, Seite 174, Zeilen 17 bis 20, Übersetzung von mir)


Todesfälle

In den Studien gab es insgesamt 17 Todesfälle, die beiden PML-Fälle eingeschlossen. Davon waren 11 in den Natalizumabgruppen und 5 in den Placebo-Gruppen. Bedenkt man die PML-Fälle und, dass die Natalizumabgruppen in den MS-Studien doppelt so groß waren wie die Placebo-Gruppen und in der Morbus-Crohn-Studie sogar viermal so groß, sind die Zahlen etwa ausgeglichen. Auch die FDA findet die Todeszahlen nicht weiter auffällig, auch nicht im Vergleich zu anderen MS-Studien. Dazu ein kurzer Abschnitt der Diskussion zwischen Dr. Walton und Dr. Alice Hughes, beide von der FDA, und Ms. Sitcov, der Patientenvertreterin im Komitee:
„DR. WALTON: Wir hatten nicht den Eindruck, dass die Gesamtsterblichkeitsrate merklich von dem abwich, was wir in MS-Studien erwarten würden. Selbstverständlich benutzen verschiedene Studien verschiedene Populationen, weshalb es nicht wirklich möglich ist, die präzisen Streblichkeitsraten miteinander zu vergleichen. Aber die absoluten Raten sind uns nicht als bemerkenswert anders aufgefallen.
MS. SITCOV: Also Sie schauen sich das nicht an und sagen, dass es besonders auffällig ist.
DR. WALTON: Nein.
DR. HUGHES: Ich denke, dass die Tatsache, dass die Tode unter den mit Natalizumab behandelten Patienten nicht bemerkenswert höher waren als die unter den mit Placebo behandelten, informativ ist und diese Frage nicht unterstützt.“ (T1, Seite 187, Zeile 10 bis Seite 188, Zeile 3, Übersetzung von mir)


Kortison erhöht Infektanfälligkeit

Eine Bemerkung, die im Zusammenhang mit Tysabri wohl nicht so spannend ist, aber sicherlich von allgemeinem Interesse für MS-Erkrankte: Kortison hat die Infektanfälligkeit in allen Gruppen erhöht, also auch in den Placebo-Gruppen. Eine Bemerkung von Dr. Sandrock von Biogen:
„Also, intravenöses Methylprednisolon, 1 Gramm pro Tag für drei bis fünf Tage, war im Protokoll für die Behandlung von Schüben erlaubt. Und wir sahen einen Anstieg der Infektionen bei Patienten, die Steroide bekamen während sie diese bekamen. Aber der Anstieg war ähnlich in der Placebo-Gruppe und der Natalizumab-Gruppe, daher glaube wir, dass die Nutzung von Steroiden für die Behandlung von Schüben angemessen ist, Steroide in einer Stoßtherapie.“ (T1, Seite 127, Zeilen 7 bis 15, Übersetzung von mir)


SENTINEL-Studie

Als ich mir die Studienergebnisse der AFFIRM- und der SENTINEL-Studie angeschaut habe, war ich darüber ziemlich überrascht, dass die Ergebnisse für Tysabri in der SENTINEL-Studie deutlich schlechter waren als in der AFFIRM-Studie. Sie waren zwar immernoch verhältnismäßig gut, besser als die gebräuchlichen Basistherapien und selbstverständlich auch besser als die Kontrollgruppe, die nur Avonex bekommen hatte. Aber man sah auf dem ersten Blick: Denjenigen, die in der AFFIRM-Studie Tysabri bekommen hatten, ging es besser als denjenigen, die in der SENTINEL-Studie Tysabri UND Avonex bekommen hatten. Das fand ich überraschend, denn eigentlich würde man ja erwarten, dass zwei Medikamente besser helfen als eines. Noch dazu, wenn das zweite Medikament, also Avonex, ein anerkanntes Basistherapeutikum ist, dessen (bescheidene) Wirksamkeit nachgewiesen ist.

Fast genauso überraschend fand ich, dass niemand das erwähnenswert zu finden schien. In den Studien gibt es dazu glaube ich keine Bemerkung und auch sonst kann ich mich nicht erinnern, darüber irgendwas gelesen zu haben. Obwohl es ja wirklich ins Auge sticht.
Auch auf der Anhörung wurde auf diesen Umstand nicht eingegangen. Allerdings ließ Dr. Sandrock von Biogen eine Bemerkung zu der SENTINEL-Studie fallen, die ich für diesen Zusammenhang äußerst interessant finde und daher hier auch kurz wiedergeben möchte:
„Die zweite Studie war eine Erweiterungs-Studie, 1802. Diese war ebenfalls randomisiert und doppelblind. Sie nahm ebenfalls schubförmig-remitierende MS-Patienten auf, aber dieses Mal mussten die Patienten eine Krankheitsaktivität während der Behandlung mit Interferon aufweisen.“ (T1, Seite 39, Zeilen 16 bis 20)

Sollte dies stimmen, wäre es dazu geeignet zu erklären, warum die SENTINEL-Probanden schlechter abschnitten als die AFFIRM-Probanden: Sie hatten entweder einen schweren Krankheitsverlauf, gegen den das Interferon nicht genug ausrichten konnte. Oder sie waren quasi resistent gegen Avonex, bekamen das dann also völlig umsonst. Das ist zwar etwas vereinfacht, würde aber Sinn machen: Diejenigen mit schwerem Verlauf würden selbstverständlich auch unter Tysabri schlechter abschneiden. Und diejenigen mit Resistenz gegen Avonex sind vielleicht auch eher gegen Tysabri resistent.

Gut, der Gedanke ist vielleicht ein wenig naiv, aber mich befriedigt er zumindest etwas. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass Tysabri und Avonex gemeinsam einfach schlechter wirken als Tysabri alleine – auch wenn niemand weiß, wieso.

Gegen diese Darstellung von Dr. Sandrock sprechen allerdings zwei Dinge.
Erstens: In dem FDA-Protokoll zur Studie (http://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00030966?intr="natalizumab"&rank=17) gibt es keinen Hinweis darauf, dass es Krankheitsaktivität gegeben haben muss. Warum ist das dort nicht bei den Kriterien zur Teilnahmeberechtigung vermerkt?
Zweitens: Die Berichte zu Anita Smith klingen nicht so als hätte sie fortgesetzte Krankheitsaktivität unter Avonex gehabt – trotzdem wurde sie offenbar in die SENTINEL-Studie aufgenommen.


Tysabri als erstes Basistherapeutikum

Was ich sehr interessant fand, war die Diskussion zu der Frage, ob Tysabri für die Ersttherapie der MS zugelassen werden sollte. In den USA ist das nämlich erlaubt, während in der EU gilt: Erst Interferon und Copaxone, und erst wenn das nicht klappt Tysabri. Leider habe ich keine Unterlagen bei der EMEA gefunden, die transparent machen würden, warum die EMEA sich so entschieden hat. Ich halte es für eine unerträgliche Bevormundung, aufgeklärten Patienten eine Therapie zu verweigern, nur weil sie noch keine drittelwirksamen anderen Medikamente genommen haben.

Diese Diskussion wurde allerdings konfus geführt und beinhaltete, soweit ich mich erinnere, einfach nur das Argument der Eigenverantwortlichkeit gegen das der Gefährlichkeit. Das Ergebnis der Abstimmung war 7 Stimmen für Tysabri als Erstmedikament bei MS, 5 Stimmen dagegen plus eine nicht stimmberechtigte Stimme dagegen. Die Entscheidung fiel also auch in den USA denkbar knapp aus. Die Abstimmung befindet sich auf den Seiten 126 und 127 in T2, die Diskussion geht der Abstimmung voraus und zieht sich glaube ich über eine längere Passage, unterbrochen von anderen Themen.


Schlussbemerkung

Ich bin in diesem Beitrag auf viele Infos nicht eingegangen, die aus den Biogen- und FDA-Berichten vom Dienstag hervorgehen. Der Grund dafür ist, dass wir die meisten Sachen hier im Forum schon in der einen oder anderen Form diskutiert hatten. Für weitere Infos ließe sich also bei Bedarf die Forensuche benutzen.

Nun hat sich für mich bestätigt was ich schon immer dachte,du hast keine Freundin mit MS sondern du willst hier Tysabri vermarkten!!
Schäm dich!!

Hallo Bert,

eine sehrgute Zusammenstellung, die garantiert übelst Arbeit gemacht hat.
Ich habe sie mit großem Interesse gelesen!
Großes Dankeschön, für die gut aufbereiteten Fakten.

Mfg
Uwe

Hallo Bert,

auch von mir ein danke schön für die Info - war bestimmt viel Arbeit. Im Gegensatz zu MS-Patient verstehe ich deine Ausführungen nicht als VErmarktung von Tsy, sondern als informative Übersetzung. Und für mich spricht nach dem Lesen mehr gehen Tsy als dafür.

Aber so ist das mit unserer Wahrnehmung - jeder von uns hat seine eigene - und das ist gut so.

Grüße Conny

Vielen Dank, Bert.

Informationen sind immer wervoll, die Übersetzung ist sicher schon als Arbeit zu bezeichnen.

Neu war für mich die lange Dauer/vielen Dosen der Behandlung der Verstorbenen.

Wie Du schon einräumst - die heiße Phase für jetzt kassenärztlich behandelte könnte noch kommen.

Mr. X

Die automatische Linkgenerierung des Forums arbeitet leider nicht wie erwünscht und hat Satzzeichen mit in die URLs integriert - weshalb die dann nicht funktionieren. Also: Falls ein Link nicht funktioniert, gucken, ob am Ende der jeweiligen URL ein Punkt oder ein Komma ist, dieses letzte Zeichen dann löschen und nochmal Enter drücken. Dann sollte es funktionieren.

Danke, Bert, deine Mühe ist es sicherlich wert.
Da ich jedoch kein Natalizumab anwende, kann ich dir durch eine Diskussion keinen Ausgleich geben.

-pb>

Hallo Bert,

vielen Dank für Deine Arbeit und Deine meiner Meinung nach
ausgewogene Bewertung (soweit das überhaupt möglich ist).

Ich habe damals fast die ganze Anhöhrung live auf dem Internet verfolgt.
Normalerweise hätte das ein paar Hundert Dollar gekostet. Aber die Jungs die den
Stream-Zugang gemacht haben waren nicht sehr clever. Jedenfalls hat jemand den
\“offenen\” Link in einem MS-Board gestellt. Ich kann deine (Protokoll)-Beobachtungen
teilweise bestätigen:

  • zeitweise langatmig
  • bei der Anhörung der Betroffenen habe ich wirklich eine
    Gänsehaut bekommen
  • die etwas undurchsichtige Interessensvertreter (Biogen hat allen Ernstes
    (wenn auch vorsichtig) versucht, die Combo-Therapie nochmal ins Spiel zu bringen)

Man muß die Entscheidung gegen eine \“Erstanwendung\” von Tysabr im Licht der damaligen Situation betrachten. Man hatte die PML-Fälle in den sehr speziellen Gegebenheiten und man hatte eine Studie/Untersuchung, die darauf hindeutete, dass in einer Monotherapie und mit intaktem Immunsystem Tysabri sicher war. Nur keiner konnte
damals garantieren, dass das so bleibt.

Heute sind ist die Situation eine andere: 20.000 Tysabri-User und kein PML-Fall.
Erste Dosierung von Tysabri (kleine Gruppe) vor 8 Jahren. Ich persönlich schließe
nicht aus, dass ein Tysabri-User PML bekommen kann. Ob es dann allerdings an Tysabri liegt ist eine andere Frage.

gruss
samoa

hallo bert,

du hast dir ja viel mühe gemacht!
sehr informativ…!

deine meinung kann ich aber nicht teilen:
\“Ich halte es für eine unerträgliche Bevormundung, aufgeklärten Patienten eine Therapie zu verweigern, nur weil sie noch keine drittelwirksamen anderen Medikamente genommen haben.\”

in diesem fall geht es nicht einfach um \“bevormundung\”, sondern um IMMER NOCH VÖLLIG UNGEKLÄRTE ETWAIGE RISIKEN von tysabri!
es gibt immer noch keine langzeitdaten zu tysabri!
da du ja so \“aufgeklärt\” bist, kannst du mir z.b. bestimmt erklären, warum es bestimmt völlig risikolos ist, die blut-hirn-schranke einfach mal so mit tysabri abzudichten. so manche stoffe, die sie früher passieren konnten (und sollten?), kommen jetzt nicht mehr durch.

die beurteilung der zulassung als ersttherapie überlasse ich lieber spezialisten als \“aufgeklärten\” patienten

viele grüße
ursula

die blut-hirn-schranke ist bei gesunden selektiv durchlässig und bleibt das auch unter tysabri. im ms-schub besteht eine schrankenstörung (daran zu erkennen, dass kontrastmittel ins zns eindringen kann). tysabri behebt diese schrankenstörung. das tun auch die interferone, aber mit einem geringeren wirkungsgrad.

wenn alles nur so einfach wäre wie du es siehst, alf.

und wieder bin ich froh, daß fachleute zu entscheiden haben und nicht \“aufgeklärte patienten\”!

ursula

ursula schrieb:

deine meinung kann ich aber nicht teilen:
\“Ich halte es für eine unerträgliche Bevormundung, aufgeklärten Patienten eine Therapie zu verweigern, nur weil sie noch keine drittelwirksamen anderen Medikamente genommen haben.\”

in diesem fall geht es nicht einfach um \“bevormundung\”, sondern um IMMER NOCH VÖLLIG UNGEKLÄRTE ETWAIGE RISIKEN von tysabri!
es gibt immer noch keine langzeitdaten zu tysabri!
da du ja so \“aufgeklärt\” bist, kannst du mir z.b. bestimmt erklären, warum es bestimmt völlig risikolos ist, die blut-hirn-schranke einfach mal so mit tysabri abzudichten. so manche stoffe, die sie früher passieren konnten (und sollten?), kommen jetzt nicht mehr durch.

die beurteilung der zulassung als ersttherapie überlasse ich lieber spezialisten als \“aufgeklärten\” patienten

Es ist ja nicht so, dass du die Wahl hättest, die Zulassung zur Ersttherapie den aufgeklärten Patienten zu überlassen. Das haben ohnehin andere entschieden.

Ehrlich gesagt verstehe ich deinen Punkt nicht so richtig: Dass es noch immer völlig ungeklärte Risiken von Tysabri gibt, habe ich doch nirgends bestritten - im Gegenteil habe ich dazu doch sogar etliches geschrieben. Ich weiß also nicht, wieso du das so stark machen willst und es quasi herausschreien möchtest.

Nur haben halt die anderen verfügbaren Medikamente auch so ihre völlig ungeklärten Risiken, nämlich neben den unangenehmen Nebenwirkungen eine relativ hohe Quote von Therapieversagen, und damit das Risiko eines relativ ungebremsten MS-Verlaufs, dessen konkretes Risiko für den Einzelnen ebenfalls ziemlich ungeklärt ist.

In dieser Situation stellt die Unterbindung einer Ersttherapie mit Tysabri eine unverhältnismäßige Bevormundung dar. Das empfinde ich sehr stark so und es regt mich auch ziemlich auf. Ich sehe nicht, dass du da irgendein Gegenargument gebracht hättest. Dass es um Risikoabwägung geht, ist ja nun wirklich nichts Neues, sondern der Knackpunkt so ziemlich jeder bisherigen Diskussion über Tysabri. Aber wer soll diese Risikoabwägung machen, wenn nicht die Betroffenen? Klar, die Spezialisten sollen die Sache erforschen, sollen aufklären und beraten - aber doch nicht die Entscheidung für andere Menschen darüber treffen, ob ein großes Risiko besser ist als ein anderes großes Risiko. Und im übrigen habe ich bei der Lektüre der FDA-Anhörung durchaus den Eindruck bekommen, dass die Komitee-Mitglieder keineswegs alle sehr informiert über die Sachlage gewesen sind. Ich würde nicht darauf bauen, dass jeder sogenannte Spezialist wirklich einer ist. Es kennt sich ja auch nicht jeder Neurologe mit der MS so gut aus wie ein Peter Rieckmann. Mich würde schon sehr interessieren, wer aufgrund welcher Informationslage bei der EMEA die Entscheidung getroffen hat, Tysabri nicht als Erstmedikament zuzulassen. Habe dazu aber leider nichts richtig finden können.

Ansonsten finde ich die Anführungszeichen, mit denen du den aufgeklärten Patienten umtüdeln zu müssen meinst, noch widerlicher als die Verniedlichungsfloskeln des Eiapopeias AnonymX, bei dem das wenigstens noch einen perversen Charme ausdünstet. Feindschaft gegenüber dem egalitären Geist passt freilich zu Leuten, die Bevormundung damit rechtfertigen, dass doch niemand weiß, wie das alles endet, aber irgendjemand doch entscheiden müsse. Oder willst du mir sagen, dass einer der entscheidungsfähigen Spezialisten deine Frage beantworten kann, welchen Effekt Tysabri auf die Blut-Hirn-Schranke hat? Und wenn überraschenderweise ja: Warum sollte ein aufgeklärter Patient das dann nicht auch können, nachdem er von diesem Spezialisten darüber augeklärt wurde?

Danke Bert, das hat mit Sicherheit total viel Arbeit gemacht, war aber super interessant zu lesen! Mich interessiert es, da ich selbst Tysabri 3 x erhalten habe, aber nach dem 2. Mal bereits Antikörper gebildet hatte. Ich hatte massivste Nebenwirkungen, und weißt du, welcher Satz mir echt Angst gemacht hat?

" Sie verlor bereits ab Dezember zunehmend die Kontrolle über ihren Körper, ihre Erinnerung und ihr Denken, wurde aber erst am 12. Februar endgültig ins Krankenhaus aufgenommen."

Genau das war es, was mich am schlimmsten beeinträchtigt hat, dass ich das Gefühl hatte, ich werde “bekloppt” mein Kopf hat sich wie mit Watte gefüllt angefühlt, ich kann es nicht beschreiben, ich hatte Probleme beim “Denken” man kann das nicht beschreiben, aber es macht furchtbare Angst. Wenn ich das nun wieder hier lese, bin ich wirklich heilfroh, dass ich es nicht mehr bekomme. Die Ärzte meinten zu mir, ich könnte es ja zu einem späteren Zeitpunkt noch mal probieren. Hallo? IM LEBEN NICHT NOCH EINMAL, das waren die schrecklichsten drei Monate meines Lebens, mit Tysabri…

In diesem Sinne,

LG
Angi

Danke für die positiven Rückmeldungen!

Zum MS-Patienten will ich kurz anmerken, warum ich mich mit Tysabri so intensiv befasse: Ich habe mich mit den Interferonen und Cop zwar nur relativ oberflächlich beschäftigt, aber doch gründlich genug, um zu wissen, dass das keine wirklich guten Optionen für meine Freundin sind - was sie im Fall der Interferone übrigens noch strikter so sieht als ich. Das Risiko, an einer Studie teilzunehmen, finden wir beide auch nicht berauschend, obwohl wir in Bezug auf Fingolimod da mal drüber nachgedacht hatten. Daher kommt als Basistherapeutikum nur noch Tysabri in Frage, weil sonst nichts auf dem Markt ist. Tysabri hat sowohl Vielversprechendes (Studiendaten, Berichte über deutliche Verbesserungen von schon länger bestehender Symptomatiken) als auch Hochproblematisches (PML, keine Langezeitdaten). Deshalb befasse ich mich damit: Ich möchte möglichst viele Argumente für und gegen Tysabri kennen, um meine Freundin bei einer etwaigen Entscheidung bestmöglich unterstützen zu können. Sie hat letzte Woche gerade ein neues MRT gemacht, ein neuer, der vierte Herd ist sichtbar. Eigentlich will sie keine BT, aber sie schwankt durchaus. Und mit jedem neuen Herd steigt der Entscheidungsdruck. Ihre Neurologin hat heute auf die Mailbox gesprochen, weil sie wahrscheinlich den MRT-Befund in der Post hatte. Die wird sicherlich zu einer BT drängen, hat sie auch schon im August versucht. Mit Cop könnte sie leben, aber eigentlich favorisiert sie Interferon, Tysabri ist - schon wegen der Indikation - für sie indiskutabel. Meine Freundin wiederum sagt: Wenn überhaupt, dann Tysabri.

Naja, das ist der Grund, warum ich mich so intensiv dafür interessiere.

Zu Conny möchte ich anmerken, dass ich denke, dass mein Bericht über die FDA-Anhörung mehr die negativen als die positiven Seiten beleuchtet hat. Insofern finde ich das nicht so überraschend, dass du nach dem Lesen mehr gegen Tysabri eingestellt warst/bist. Die positiven Seiten sind in diesem Forum ja auch durchaus schon zu Genüge gewürdigt worden. Dennoch sollte man sie nicht aus den Augen verlieren: Schubreduktion gegenüber Placebo um mehr als 2/3, Reduktion der T1-Herde um mehr als 80 % und der Gadolinium anreichernden Herde um mehr als 90 %, Reduktion der EDSS-Zunahme um immerhin ein gutes Drittel.

Mr. X möchte ich fragen: Ist das mit der heißen Phase für die “kassenärztlich” behandelten eine Anspielung auf etwas? Meinst du, dass Privatversicherte keine Angst vor PML haben müssen? Meinst du vielleicht, dass die Kassen das Medi nicht mehr bezahlen werden, wenn die PML-Quote auf oder über 1 zu 1000 steigt?

Und @samoa: Schön, dass wir da einige Dinge ähnlich empfunden haben. Ich bin nicht so ganz aus dem schlau geworden, was du in punkto Erstanwendung geschrieben hast. Du wolltest sagen, dass es vor eineinhalb Jahren gefährlicher aussah als heute, oder? Vor der Lektüre des Transkripts habe ich das ähnlich gesehen, jetzt bin ich da aber skeptischer. Ich bin jedenfalls froh darüber, dass wenn meine Freundin Tysabri nehmen wird, sie nicht zu den ersten gehört und wir da gegebenenfalls eine “Vorwarnzeit” von eineinhalb Jahren haben. Ich werde dann jedenfalls sehr genau aufpassen, ob UweA auch noch von seiner 50. Tysabri-Infusion berichtet :wink:

Das scheint eine häufigere Nebenwirkung zu sein, wenn man Antikörper entwickelt. Moni hatte da ja auch gerade von berichtet - obwohl sie nichtmal weiß, ob sie Antikörper hat.

Das stelle ich mir auch ziemlich schrecklich vor. Kontrollverlust über das eigene Denken ist ziemlich gruselig. Ich kann natürlich nicht wirklich mitreden, aber PML ist da glaube ich trotzdem noch mal ein ganz anderer Schnack. Das Gehirn wird da wohl weiträumig vom JC Virus zerfressen.

Hallo,

SCHRECKLICH ist bei einer MS Erkrankung kein zeitlich begrenzter Begriff !!!

Wenn du Antikörper nach der 3. Infusion unter Tysabri bekommen hast, hast Du einfach Pech gehabt, leider dann Therapieversager bzw Unverträglichkeit.
Frust über diese Tatsache bei Dir, sollte jedoch nicht in absolute Unsachlichkeit in deinem Beitrag übergehen!

Mfg
Uwe

Hallo Bert,

zunächst einmal mein Respekt für Deine Bemühungen, die Diskussionen über dieses relativ neue Medikament durch zusätzliche nicht für jeden zugängliche Informationen zu versachlichen.

Ich habe nur eine Anmerkung zu Deiner Bemerkung, dass Tysabri in der EU als Ersttherapie nicht zur Verfügung steht bzw. stehen soll. In dem Zulassungsdokument der EMEA steht ausdrücklich, dass Tysabri bei schwerem Krankheitsverlauf ohne Einschränkungen verordnet werden kann. Ich habe die einschlägigen Passagen aus dem Dokument kopiert:

4.1 Anwendungsgebiete
TYSABRI ist für die krankheitsmodifizierende Monotherapie von hochaktiver, schubförmig
remittierend verlaufender Multipler Sklerose (MS) bei folgenden Patientengruppen indiziert:
• Patienten mit hoher Krankheitsaktivität trotz Behandlung mit einem Interferon beta (siehe 5.1);
oder
• Patienten mit rasch fortschreitender schubförmig remittierend verlaufender Multipler Sklerose
(siehe 5.1).

Klinische Wirksamkeit
TYSABRI ist für die krankheitsmodifizierende Monotherapie bei schubförmig remittierend
verlaufender Multipler Sklerose bei folgenden Patientengruppen zur Prävention von Schüben und zur
Verlangsamung der Behinderungsprogression indiziert. Aufgrund von Sicherheitsbedenken (siehe 4.4
und 4.8) ist die Behandlung auf folgende Patientengruppen beschränkt:
• Patienten, die nicht auf einen vollständigen und angemessenen Zyklus einer Interferon-beta
Therapie angesprochen haben. Bei den Patienten sollte es während der Therapie im
vorangegangenen Jahr zu mindestens einem Schub gekommen sein, und sie sollten mindestens
9 T2-hyperintense Läsionen in der kranialen MRT oder mindestens 1 Gadolinium anreichernde
Läsion aufweisen.

oder

• Patienten mit rasch fortschreitender schubförmig remittierend verlaufender Multipler Sklerose,
definiert durch 2 oder mehr Schübe mit Behinderungsprogression in einem Jahr, und mit 1 oder
mehr Gadolinium anreichernden Läsionen in der MRT des Gehirns oder mit einer signifikanten
Erhöhung der T2-Läsionen im Vergleich zu einer früheren in jüngerer Zeit angefertigten MRT.

Hallo Bert,

Du machst Dir wirklich sehr viele Gedanken, und das finde ich gut. Du mußt deine Freundin sehr gerne haben und willst das Optimum an Behandlung für sie.

Mein Satz mit der heißen Phase hatte nichts mit K.Kassen (ob privat oder gesetzl.) zu tun, sondern mit deiner Anmerkung zu den zwei unter Tysabri verstorbenen Probanden - die wurden eben recht lange behandelt und viele Anwender (zumindest in d. BRD) sind erst seit kurzem auf Tysabri, könnten also noch gravierende NW entwickeln.

Deshalb auch mein Gedanke neulich, mal in amerikanische Foren zu schauen. Ich habe jedoch nur einige Threads überflogen und konnte nichts erschreckendes feststellen.

Ich möchte nochmal auf das Post von Alf kommen. “Bei einem MS-Schub besteht eine Schrankenstörung, Tysabri hebt diese Schrankenstörung auf”

Ich habe es so verstanden, dass Tysabri eine permanente Wirkung hat, also eher vorbeugend (mehr oder weniger selektiv ?) T-Helferzellen am Eindringen ins Hirn hindert, so also die zerstörische Aktivität dieser fehlgeleiteten Zellen vom Hirn fernhält und auf diese Weise Schübe verhindert.

Könnte dass auch ein Grund sein, warum Tysabri nur hochaktiven Verläufen mit vielen Schüben verordnet wird (“werden sollte”, jedenfalls laut Richtlinie) ?

Ist es evtl. bei einem leichten Verlauf, damit meine ich jährlich einen Schub, der keine großen Schäden hinterläßt, nicht völlig unverhältnismäßig ? Ich rede nicht von Kosten, denn auch Copax ist teuer, sondern vom Risiko der “überstarken Wirkung” bzw. Nebenwirkung.

Und dann chronische Verläufe (SPMS ohne aufgesetzte Schübe). Dies ist mein Stand der Dinge, schon 1999 konnte im MRT kein Kontrastmittel-Herd mehr nachgewiesen werden. Mein Neuro rät mir schon seit Jahren von Kortison ab, da es seiner Meinung nach schlecht ist, ständig mit Korti alles “überzubügeln”. Ich habe mich noch zwei Jahre seiner Meinung wiedersetzt (da ich 2002 noch eine deutliche Verbesserung nach Korti hatte) und hab mir vom Hausarzt weiter jährlich 3 x 1000-Infusionen geben lassen.

Nachdem im letzten Winter die letzte Infusion meinen Zustand eher verschlechterte, habe ich mich an seinen Hinweis erinnert, dass bei fortgeschrittenen MS-Verläufen eine “entzündliche Komponente” durchaus erwünscht ist - der Körper zeigt noch Anzeichen einer Regeneration. Hier auch noch ein Hinweis auf die erst kürzlich entdeckte Rolle der regulatorischen T-Zellen bei der MS.

Der Spruch meines Neuros, angesprochen auf Tysabri: “das kann bei Ihnen gar keine positiven Effekte haben” - ich habe mich zuerst auch darüber geärgert, aber je mehr ich mich informiere, wird mir seine Haltung verständlicher.

Gruß Mr. X

hallo mr.x,

das mit der schrankenstörung ist und bleibt fluch und segen zugleich. einerseits verhindert tysabri nachweislich durch die abdichtung der bhs schübe. es kann aber auch andere (positive) wechselwirkungen unterbinden.
im gegensatz zu manchen leuten hier im forum bereitet das einigen wissenschaftlern kopfzerbrechen (z.b. denen von der max-planck-uni mündchen)

ich denke mal, der hauptgrund für die strengen richtlinien (daß t. nur bei hochaktiven verläufen verschrieben werden darf), liegt in der risikoabwägung.
wenn sich plötzlich alle patienten t. aussuchen dürften? wer übernimmt dann die verantwortung, wenn was schief geht?

wir werden sehen.

ursula

hallo bert,

und was sind deine argumente?
daß du ein paar texte im internet gelesen hast und es deswegen besser weißt als die leute von der zulassungsbehörde? und deswegen darf dich keiner “bevormunden” in sachen ersttherapie?

weil du so aufgeklärt bist, willst du für deine freundin eine ausnahmegenehmigung, damit sie auch ohne hochaktive ms tysabri kriegt?
ich stelle auch vieles in frage, was so veröffentlicht wird (und das finde ich auch wichtig!), aber ich finde, es gibt auch grenzen.
wir sind hier nun mal alle LAIEN.
auch du.

ursula