Hallo Bernd,

danke für die Klarstellung. Ich hatte die Passage aus dem EMEA-Zulassungsdokument ursprünglich eigentlich auch theamtisieren wollen - bin dann aber irgendwie drüber weggekommen.

Ich war da wohl auch etwas unpräzise: Es ist nicht grundsätzlich so, dass Tysabri nicht als Erstmedikament eingesetzt werden kann, aber eben nur bei einem ziemlich starken Verlauf: 2 Schübe plus Behinderungsprogression plus einer Gadolinium anreichernden Läsion.

Da eine MS offenbar auch über längere Zeiträume unterhalb der Wahrnehmungsschwelle fortschreiten kann, finde ich das zu strikt. Ich kann zwar durchaus verstehen, dass solche Mindesterfordernisse festgelegt wurden. Bei all dem Getöse, dass der Beginn einer Basistherapie so schnell wie mögich nach Erstschub passieren sollte, ist die Gefahr groß, dass mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird und viele MSler mit Tysabri behandelt werden, die auch ohne Medis über Jahrzehnte einen guten Verlauf haben könnten - und statt dessen womöglich an PML sterben oder dergleichen.
Mir leuchtet aber nicht ein, wieso ein Bewusstsein der Problemlagen und Risiken von Tysabri bei behandelndem Arzt und behandeltem Patienten nicht ausreichen sollte, um die Entscheidung zu treffen, ob Tysabri eine akzeptable Option ist oder nicht.

Ich bin nicht der Meinung, dass es eines Arguments für die Feststellung bedarf, dass jeder selbst darüber entscheiden sollte, was er oder sie mit sich und seinem oder ihrem Körper anfangen will - solange es anderen nicht schadet etc.

Wenn du mal ins Grundgesetz schaust, wirst du feststellen können, dass dies in unserer Kultur soweit Common Sense ist, dass es in Artikel 2 auch als Grundrecht fixiert wurde. In den Menschenrechten wird man zu dem Thema sicherlich auch fündig werden.

Ein möglichst gutes Argument bedarf es daher, wenn man diese Selbstbestimmung einschränken will, nicht umgekehrt, wenn man sie verteidigen möchte. Und das Risiko von PML etc. ist meines Erachtens kein gutes Argument. Und warum ich dieser Meinung bin, habe ich wiederum mit Argumenten begründet.

Übrigens habe ich nicht behauptet, dass ich es besser weiß als die Leute von der Zulassungsbehörde. Das Problem ist aber keines des Wissens, den aufgeklärten Patienten vorausgesetzt, den du einfach ganz grundsätzlich belächelst, sondern eines der Entscheidung über den Umgang mit der eigenen Physis.

Meine persönliche Betroffenheit durch die Situation meiner Freundin mag mit eine Rolle spielen, dass mich dein autoritätsfixierter Gestus so aufregt. Allerdings hatten wir von einem Neurologen aus einem MS-Zentrum bereits die Zusage bekommen, dass sie Tysabri bekommen könnte, wenn sie das selber zu verantworten weiß. Anscheinend können Ärzte ja bis zu einem Gewissen Grad Medikamente auch zu “experimentellen” Therapiezwecken verschreiben. Es ist also vermutlich nicht so, dass es ein echtes praktisches Problem für uns darstellt. Für andere Leute aber wahrscheinlich schon …

hallo bert,

tut mir leid, daß sich mein “autoritätsfixierter gestus” aufregt.
wenn du meine anderen postings lesen würdest, wüßtest du, daß gerade ich alles andere als autoritätsfixiert bin.
im gegenteil bin ich kritischer als so mancher andere hier.
allerdings bin ich auch kritisch selbsternannten “experten” gegenüber.
was meinst du eigentlich, was hier los wäre, wenn jeder, der sich für gut genug informiert hält, jede mögliche therapie erhalten könnte?
na dann gute nacht.
gerade die “community” in usa lechzt von anfang an geradezu hysterisch nach tysabri.
man kann froh sein, daß nicht noch mehr passiert ist seit der zulassung. das, wie auch der studienarm mit avonex, war nichts anderes als russisch roulette.
in 5 jahren können wir uns ja nochmal unterhalten.
wer weiß, was sich da dann noch zum pml-risiko hinzugesellt hat.
viel spaß bei euren experimenten.

ursula

Mr. X schrieb:

Ich habe es so verstanden, dass Tysabri eine permanente Wirkung hat, also eher vorbeugend (mehr oder weniger selektiv ?) T-Helferzellen am Eindringen ins Hirn hindert, so also die zerstörische Aktivität dieser fehlgeleiteten Zellen vom Hirn fernhält und auf diese Weise Schübe verhindert.

Das hatte ich auch so verstanden. alf, kannst du vielleicht belegen, woher du diese Info hattest?

alf schrieb:

die blut-hirn-schranke ist bei gesunden selektiv durchlässig und bleibt das auch unter tysabri.

Ich habe zwar keinen Zweifel daran, dass die Schranke selektiv durchlässig bleibt. Wäre das nicht so, könnte es ja unter Tysabri überhaupt keine Krankheitsaktivität geben. Und dass Sauerstoff und Nährstoffe auch unter Tysabri ins Gehirn kommen, ist sicherlich auch klar. Aber dieser Satz klingt so lockerflockig achselzuckend nach dem Motto: Eigentlich behebt Tysabri nur einen vorhandenen Schaden und hat funktioniell im Prinzip keine schadhafte Wirkung. Wäre so etwas wirklich nachgewiesen, hätte da doch bestimmt schon jemand drauf hingewiesen, oder nicht?

Mr. X fragte:

Ist es evtl. bei einem leichten Verlauf, damit meine ich jährlich einen Schub, der keine großen Schäden hinterläßt, nicht völlig unverhältnismäßig ? Ich rede nicht von Kosten, denn auch Copax ist teuer, sondern vom Risiko der “überstarken Wirkung” bzw. Nebenwirkung.

Ich glaube, “überstarke Wirkung” stellt kein Problem dar. Ich habe jedenfalls bislang nichts in der Richtung vernommen. Was die Nebenwirkungen angeht hat das die EMEA offenbar so gesehen: Das Risiko überwiegt bei schwachem Verlauf den Nutzen. Die FDA hat es anders gesehen: Der Patient entscheidet im Verbund mit dem behandelnden Arzt darüber, ob das Risiko den Nutzen überwiegt oder umgekehrt. Ich finde die FDA-Position besser als die EMEA-Position, ursula offenbar umgekehrt. Es gibt da keine einhellige Meinung zu.

Allerdings ist es ja nicht so, dass MS-Verläufe völlig stabil wären. Selbst wenn du einen recht leichten Verlauf über viele Jahre hast, kann es irgendwann wieder deutlich stärker werden. Es gibt glaube ich viele Berichte in den Foren darüber und ich meine auch, dass ich irgendwo über eine Studie gelesen hätte, dass viele MSler in den ersten Jahren eine sehr aktive Phase der Krankheit haben, dann eher eine ruhige Phase, aber so nach 10 bis 15 Jahren wieder eine heftigere Phase. Willst du derjenige sein, der denjenigen mit einem bislang eher leichten Verlauf angesichts solcher Rahmenbedingungen sagen willst: “Nö, Tysabri lohnt bei dir nicht, Risiken sind viel zu groß.”?

Mit SPMS habe ich mich nicht so eingehend beschäftigt. FDA und EMEA haben Tysabri nur für RRMS zugelassen. In der Anhörung wurde aber auch kurz thematisiert, dass davon auszugehen ist, dass die praktizierenden Ärzten auch SPMS-Patienten Tysabri offlabel verschreiben werden. Da es da aber noch keine abgeschlossenen Studien zu gibt, kann es dafür wohl auch nicht zugelassen werden. Es gibt in den USA aber zumindest eine gerade Probanden rekrutierende Studie: http://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT00559702?intr="Natalizumab"&rank=2

Dass mit der entzündlichen Komponente und der Regeneration ist mir nicht so richtig klar: Schädigen die Entzündungsproezsse denn nicht mehr als sie regenerieren? Ich finde, dass etliche Berichte von Tysabri-Patienten so klingen als wenn es durchaus Regenerationsprozesse unter Tysabri gibt. Ich weiß aber natürlich nicht, wie das bei SPMS aussieht. Und Studien gibt’s dazu auch nicht.

Hallo ursula,

ja, du hast Recht, mich hat das auch etwas irritiert, gerade von dir solche Kommentare zu hören.

Meines Erachtens sind das zwei paar Schuhe: Die Informationspolitik und die Patientenaufklärung sind sicherlich ein großes Problem bei Tysabri. Und ich finde nicht, dass das von Biogen/Elan bzw. FDA/EMEA auch nur annähernd vorbildlich gelöst wird.

Eine ganz andere Frage ist die, ob Patienten in einer Situation selber über ihre Medikation bestimmen sollten oder nicht, in der es gute Gründe sowohl dafür als auch dagegen gibt. Und mein Eindruck war, dass wir uns über diesen Punkt gestritten hatten.

Bei allen Mängeln der Informationspolitik: Wer heute Tysabri nimmt, kann sich in fünf Jahren nicht über eine dann womöglich ausgebrochene PML beschweren. Die Verantwortung trägt jeder Einzelne. Und selbstverständlich die behandelnden Ärzte insofern, als dass sie wirklich sicher gehen müssen, dass zumindest die Basics verstanden worden sind (PML, ungewisse Langzeitfolgen). Wenn das aber gegeben ist, bleibt nur die Eigenverantwortung des Patienten.

Dass die community nach Tysabri “gelechzt” hat, finde ich angesichts der Studiendaten nicht wirklich überraschend: Tysabri ist zwar immernoch kein gutes Medikament, aber eines, das deutlich vielversprechender ist als die Interferone oder Copaxone (wenn wir mal davon ausgehen, dass man den Studiendaten weitgehend vertrauen kann).

Du fragtest rhetorisch:

was meinst du eigentlich, was hier los wäre, wenn jeder, der sich für gut genug informiert hält, jede mögliche therapie erhalten könnte?

Ich denke, es ist eine Aufgabe der Gesundheitspolitik sicherzustellen, dass jeder, der sich für gut genug informiert hält, dies auch wirklich ist bevor er ein Medi erhält. Dann aber sehe ich kein Problem. Wer die möglichen Konsequenzen kennt, sollte auch mit ihnen leben oder sterben können. Alles andere finde ich paternalistisch und einer freien Gesellschaft unwürdig.
Im Übrigen würde das mittelfristig sicherlich Lerneffekte in der breiten Bevölkerung hervorrufen: Pillen schlucken ist etwas ernsthaftes, das man nicht so leichthin tun sollte. Die Sorglosigkeit einer Pillen schluckenden Gesellschaft scheint ja deine Sorge zu sein. Bei tatsächlich eigenverantwortlichem Gebrauch würde die Gesellschaft sicherlich auch etwas bewusster damit umgehen - vielleicht nicht sofort, aber mit der Zeit nach schmerzhaften Lernprozessen. Ein Schulfach “Pharmakologie für den Alltag” könnte auch nicht schaden. Wie gesagt: Alles Probleme der Informationspolitik - da können wir lange drüber diskutieren. Genauso wie natürlich über die schwierigen Fälle: Komapatienten, geistig Behinderte etc. Wer soll da entscheiden? Aber das ist glaube ich nicht der Punkt unserer Diskussion. Der war meines Erachtens: Handelt es sich bei der EMEA-Entscheidung, Tysabri nur bei schwerem Verlauf als Ersttherapie zuzulassen, um eine Bevormundung? Ich sehe keine Möglichkeit, auf diese Frage etwas anderes als “Ja” zu antworten.

hallo bert,

wir patienten haben doch schon ein wertvolles recht:
das VETO recht.
kein arzt darf uns zu therapien zwingen, die wir ablehnen!
außerdem haben wir freie arztwahl!
daraus leitet sich in meinen augen auch die pflicht ab, sich einen guten arzt zu suchen, wozu es wiederum gut ist, sich selbst gut zu informieren, um die guten von den schlechten zu unterscheiden.
wenn man allerdings im internet unterwegs ist, so fällt auf, wie naiv, desinformiert und desinteressiert ein großteil der leute sind.
arrogant gesagt:
im großen ganzen ist der “eigenverantwortliche gebrauch” von medikamenten bei sehr vielen patienten eben nicht gegeben.
auch ein schulfach pharmakologie im alltag würde daran wenig ändern.
(studien ergaben z.b., daß viele medikamente gar nicht oder falsch eingenommen werden.)
und das liegt nicht nur an schlechten ärzten, sondern auch am desinteresse vieler patienten.
auch deswegen finde ich es wichtig, daß fachleute entscheiden, nicht laien.

ich finde die entscheidung, tysabri auf die hochaktiven verläufe zu beschränken zur abwechslung mal völlig richtig (im gegensatz zur voreiligen zulassung)

wenn es jetzt schon als ersttherapie massenhaft eingesetzt werden würde, hätten die verantwortlichen völlig zurecht schlaflose nächte!
(ehrlichgesagt verstehe ich dich auch nicht so recht - wie man sich ohne not einem noch nicht geklärten risiko aussetzen kann?)

viele grüße

ursula

ursula schrieb:

(ehrlichgesagt verstehe ich dich auch nicht so recht - wie man sich ohne not einem noch nicht geklärten risiko aussetzen kann?)

“Ohne Not”?!? Dir ist schon klar, was MS alles so bedeuten kann, oder???

Ansonsten finde ich deinen Standpunkt in dieser Sache weiterhin überheblich und dünkelhaft, daher widerlich. Wer bist du, dass du dir anmaßt, besser zu wissen, wie die desinteressierten und desinformierten MS-Patienten ihr Leben leben sollten als sie selbst?

Selbst wenn wir uns darauf einigen könnten, dass es weit oberhalb der Schwelle geistiger Behinderung Idioten gibt, von denen man nicht den Eindruck hat, dass sie wüssten, was sie tun, und denen man vielleicht eine Entscheidung über ihr eigenes Schicksal nicht zumuten kann - worauf wir uns NICHT einigen können -, würdest du ja immernoch alle einigermaßen vernünftigen Menschen gemeinsam mit diesen Idioten bevormunden wollen. Und wieso? Bloß aus allgemeiner Misanthropie? Das finde ich ein erbärmliches Argument für Bevormundung.
M. E. haben auch die Idioten, sofern - sagen wir mal - sie von dieser Gesellschaft als geschäftsfähig eingestuft werden, ein Recht darauf, in ihr mögliches Verderben zu rennen, wo sie auf ein bißchen Glück hoffen. Ich kann mir keinen guten Grund denken, warum eine Gesellschaft, die tagtäglich aus bloßer Bequemlichkeit unglaubliche Risiken auf sich nimmt (um mal bloß ein paar Stichworte zu geben: Verkehrstote, Atomkraft, Waffenindustrie, wenig nachhaltiger Umgang mit Ressourcen etc.), jemandem ein Medikament verbieten sollte, das deutlichen Schaden ziemlich wahrscheinlich abhalten könnte, aber sehr eventuell auch deutlichen Schaden hervorbringen könnte.