Da ich mal davon ausgehe, dass Lupo keinen Beweis dafür hat, dass die Studien gefälscht sind (Ist doch so, Lupo, oder?), bin ich nachwievor der Meinung, dass die Studien die beste Lageeinschätzung liefern, die wir bekommen können. Ich traue den Pharmafirmen zwar prinzipiell alles zu bei den Geldmengen, um die es geht, aber ich schätze, dass es extrem schwierig ist, so große Studien mit fast 1000 Probanden in 99 Zentren und einem riesigen daran arbeitenden Forscherheer wie z. B. die AFFIRM-Studie (die ich immer Polman-Studie nenne) zu fälschen. Ganz abgesehen von der im Nacken sitzenden FDA. Wobei ich mich frage, ob die allgegenwärtige Verblindung es nicht erleichtert, Studien zu fälschen. Aber wie auch immer: in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten. Solange Langzeiterfahrungen den Studien nicht vehement widersprechen, werde ich sie als die beste Informationsquelle hinsichtlich der Qualität der Medis ansehen.
ursula schrieb:
"was ich etwas schwach gefunden habe:
“8 von 10 patienten hatten unter tysabri keine krankheitsprogression”
7 von 10 patienten unter placebo aber auch nicht (71%)?"
Man kann der Werbebroschüre allerdings nicht vorwerfen, dass sie diese nicht sehr große Differenz von EDSS-Verschlechterung zwischen Tysabri- (17 %) und Placebo-Gruppe (29 %) von 12 % unterschlagen würde. Die Zahlen werden 2 mal auf den entsprechenden Seiten genannt, auch wenn selbstverständlich die riesige Schrift nur auf den Nutzen von Tysabri hinweist - ist halt Werbung, was will man erwarten?
Wirklich beurteilen können wird man die Reduktion der Behinderungszunahme durch Tysabri wahrscheinlich erst, wenn man 5-Jahres oder 10-Jahres-Daten, am besten 20- oder 50-Jahres-Daten hat. Schließlich ist der Behinderungszustand bei vielen MSlern über viele Jahre glücklicherweise sehr konstant, was die relativ geringe Behinderungszunahme von nicht einmal einem Drittel der Probanden in 2 Jahren in der Placebogruppe ja auch unterstreicht.
Ich möchte noch auf eine Sache hinweisen, die ich in diesem Zusammenhang als ziemlich wichtig einschätze:
Im April ist ein Aufsatz von Miller et al. in Neurology erschienen, der sich nur mit den MRT-Ergebnissen der AFFIRM-Studie befasst, also die Polman-Daten teilweise erneut berichtet, teilweise ergänzt (Abstract: <a href=“http://www.neurology.org/cgi/content/abstract/68/17/1390”>http://www.neurology.org/cgi/content/abstract/68/17/1390</a>).
Während in dem Polman-Aufsatz nur von den T2-gewichteten und den Gadolinium-anreichernden Läsionen berichtet wird, werden in diesem Aufsatz auch die Zahlen für die T1-gewichteten Läsionen in der AFFIRM-Studie beschrieben.
Warum ist das interessant? Weil T1-Gewichtung die sog. schwarzen Löcher zeigt, die im Unterschied zu der T2-Gewichtung mit der Behinderungszunahme deutlich korreliert.
T1, T2 und Behinderung
Für den Zusammenhang zwischen T1-Gewichtung, T2-Gewichtung und Behinderungszunahme zitiere ich mal etwas ausführlicher aus einem Artikel von Michael Sailer und Nils Bodammer in Rudolf M. Schmidt und Frank A. Hoffmann (Hrsg.): Multiple Sklerose, München 2006:
“Bis zu 20-30% der in T2-gewichteten Aufnahmen signalintensiven Läsionen können auch in T1-gewichteten Aufnahmen dargestellt werden. Akute Läsionen können in der T1-Wichtung hypointens erscheinen, das pathologische Substrat ist ein ausgeprägtes Ödem. Dies hat zur Folge, dass ein nicht geringer Anteil dieser T1-Läsionen sich ohne strukturelle Veränderung wieder zurückbilden kann. In den chronischen, auch ‘black holes’ genannten hypointensen Läsionen liegen strukturelle Veränderungen des Gewebes vor. Das pathologische Substrat der chronischen Läsion ist aber sehr heterogen. Die neuropathologischen Veränderungen können sich erheblich im Ausmaß der Myelinisierung und/oder des axonalen Unterganges unterscheiden. Histopathologische Untersuchungen zeigen jedoch, dass in allen in der T1-Wichtung hypointensen chronisch persistierenden T1-Läsionen Hinweise auf einen irreversiblen axonalen Untergang in unterschiedlicher Ausprägung vorliegen.” (S. 141)
“In Querschnittsuntersuchungen ist die Korrelation zwischen der Anzahl bzw. dem Volumen der Läsionen in der T2-gewichteten Bildgebung und der Behinderung sehr schwach.” (S. 146) Allerdings gebe es einige Studien, die eine Korrelation in der individuellen Langzeitentwicklung zwischen Zunahme von T2-Herden und Behinderungszunahme gefunden haben. Andere Studien konnten diese Korrelation aber nicht nachweisen, so dass im Ergebnis zwischen T2-Herden und Behinderungszunahme kein großer Zusammenhang zu vermuten ist.
“Die Anzahl bzw. das Volumen der in den T1-gewichteten Sequenzen dargestellten Läsionen weist sowohl in Querschnittsuntersuchungen als auch in longitudinalen Studien eine stärkere Korrelation zum Behinderungsgrad auf als die T2-gewichtete MRT-Untersuchung. […] Die chronischen, in T1-gewichteten Aufnahmen hypointensen Läsionen durchlaufen in ihrer Entwicklung ebenfalls zunächst ein akutes Stadium mit Kontrastmittelanreicherung. Post-mortem-Untersuchungen zeigen, dass diese Läsionen eine niedrigere Anzahl von Axonen aufweisen als in T2-gewichteten Aufnahmen hyperintense Läsionen. Gestützt wird dies durch zusätzliche Befunde, wie z.B. eine Abnahme des Magnetisierungstransferverhältnisses (magnetization transfer ratio, MRT) in diesen Bereichen sowie eine Konzentrationsabnahme des neuronalen Markers NAA in der Spektroskopie. Neuropathologische Untersuchungen zeigen, dass die gemeinsame Endstrecke der unterschiedlichen pathologischen Prozesse im Hinblick auf den Behinderungsgrad der Axonverlust ist.” (147)
Ergebnisse der AFFIRM-Studie zu T1-Herden (Miller)
Nach der 2-Jahres-Studie tauchten im Durchschnitt 1,1 neue T1-Herde in der Tysabri-Gruppe und 4,6 neue T1-Herde in der Placebo-Gruppe, d. h. Tysabri verringerte die Anzahl der T1-Herde um 76 % gegenüber Placebo. Das ist nicht ganz so beeindruckend wie die T2-Werte (1,9; 11; knapp 83 %), aber immernoch ziemlich beeindruckend und vor allem für die Behinderungszunahme wichtiger!
Die Zahl der T1-Herde, die nicht Gadolinium anreicherten, die also nicht bloß akut waren, sondern chronisch, war: 1,0 zu 3,8. Auch das ist immerhin noch ein Rückgang von knapp 74 % gegenüber Placebo.
Es gibt noch eine weitere Betrachtung in dem Miller-Aufsatz, die ich ziemlich interessant finde. Sie haben nämlich auch das Gehirn-Volumen (Brain parenchymal fraction: BPF - fraction, weil das sie nur bestimmtes Gehirngewebe in Betracht gezogen haben) über die 2-Jahre hinweg betrachtet und etwas seltsames festgestellt: Über die zwei Jahre hinweg war die Abnahme des Gehirnvolumens zwischen Natalizumab-Gruppe und Placebo-Gruppe ähnlich (0,80 % gegenüber 0,82 %, Prozente beziehen sich auf die gesamte Gehirnmasse), im ersten Jahr war die Abnahme in der Tysabri-Gruppe aber deutlich höher (0,56 % gegenüber 0,40 %) und im zweiten Jahr dafür niedriger (0,24 % gegenüber 0,43 %). Am Ende des Aufsatzes formulieren sie eine Vermutung, woran das liegen könnte:
“Whereas the BPF, a measure of brain tissue volume that is normalized to intracranial volume, was decreased more in natalizumab-treated patient during year 1, the rate of brain atrophy was significantly less in natalizumab-treated patients during year 2. A plausible explanation for an initial reduction in brain volume in natalizumab-treated patients is the profound decrease of inflammatory brain lesions with resolution of associated edema. An early reduction in brain volume has been associated with other treatments that have an anti-inflammatory effect: highdose IV methylprednisolone and interferon beta. The samller amount of brain atrophy in year 2 may reflect a longer-term benefit of natalizumab in preventing new lesion formation and the consequent axonal transaction (and resulting wallerian degeneration) that occurs in such lesions.”
Knapp gefasst lautet die Vermutung also: Die Gehirnatrophie, also Abnahme der Gehirnmasse, ist etwas gutes, weil sie bedeuten kann, dass die Entzündungen/Schwellungen im Gehirn zurückgegangen sind. Dass unter Tysabri im ersten Jahr mehr Gehirnatrophie vorlag, wird so interpretiert, dass Tysabri schneller zu einem Abklingen von Entzündungen geführt hat als unter Placebo.
Auch wenn die Zahlen nicht gigantisch sind, finde ich das eine interessante Überlegung, z. B. weil sie bei Tysabri vielleicht das wieder ins Spiel bringt, was ja immer hinsichtlich BT gesagt wird: je früher, desto besser.