Hallo Mini,
“Geschwafel”? Macht doch nichts. Wer’s nicht mag, muss es doch nicht lesen, das gilt für mein Geschreibsel genauso, das ist ja auch vielen zu lang. Die sollen nicht zetern, sondern ganz einfach rechts oben auf das kleine x klicken!
Hat denn dein Mann nach fast 9 Jahren Avonex (Respekt!) jetzt plötzlich so viele und schwere Schübe, oder was muss ich mir unter “Zustandsverschlechterung” vorstellen, und unter “wenn sich die Krankheit mal wieder zu Wort meldet”? Ein Schub alle paar Jahre ist noch kein Therapieversagen. Der “Hammer” Fingolimod ist, wie Tysabri, eine Eskalationstherapie, und für Verläufe mit hoher Entzündungsaktivität und vielen schweren Schüben bestimmt.
Hat dein Mann denn viele kontrastmittelaufnehmende Herde im Kernspin, und kommen laufend neue dazu? Wenn nicht - die Neurodegeneration (den Axonuntergang) und die damit einhergehende Progredienz kann Fingolimod wahrscheinlich ebenso wenig stoppen wie die (viel weniger riskanten) Basistherapien. Fingolimod ist ein Immunsuppressivum aus der Transplantationsmedizin wie das altgediente Azathioprin (und übrigens auch das DSG des zweifelhaften Dr. Niels Franke) - also in meinen Augen kein gar so großer Fortschritt.
Zunächst mal wäre zu untersuchen, warum das Avonex nicht mehr wirkt. Wenn die Entzündungsaktivität nach 9 Jahren Avonex plötzlich wieder zugenommen hat und dein Mann einen Haufen neuer Herde bekommen hat, könnten neutralisierende Antikörper (NAbs) gegen Beta-Interferon die Ursache sein - die es leider auch bei Avonex geben kann. Darauf müsste man als erstes testen (Blutuntersuchung).
Wenn er NAbs gebildet hat, kann er die Interferone fürs erste vergessen; Cop wäre dann aber noch eine relativ ungefährliche Therapieoption, ehe man die schweren Geschütze hervor holt. Ob es wirkt, weiß man - wie bei allem - erst, wenn man’s versucht hat. Und selbst wenn es wirkt, weiß man noch lange nicht genau, warum es wirkt. Bei vielen Medikamenten findet man das erst heraus, wenn sie schon jahrelang in Gebrauch sind.
Wenn er keine Interferon-NAbs hat, bestünde die Möglichkeit, erst einmal auf eines der Hochdosisinterferone mit mehr Power als Avonex umzusteigen, also Betaferon / Extavia oder Rebif 44, die auch eine Zulassung für SPMS mit noch vorhandener Entzündungsaktivität haben Vielleicht würde eines davon ihm noch etwas bringen. (Ich halte es für möglich, dass die paar Prozent Interferon-“Responder” eine MS haben, die irgendwie mit einem Virus zusammenhängt, und dass das IFN deswegen bei ihnen wirkt, und nicht wegen einer wie auch immer gearteten “Immunmodulation”. Indizien für einen Zusammenhang mindestens einer der MS-Arten mit einem Virus gibt es reichlich, z.B. die MRZ-Reaktion.)
Wenn dein Mann aber keine Entzündungsaktivität (mehr) hat, und die Verschlechterung eine Folge der Neurodegeneration (des Axonuntergangs) ist, ist eine immunmodulierende oder -suppressive Therapie kaum noch sinnvoll, denn die Neurodegeneration kann dadurch wahrscheinlich nicht beeinflusst werden (obwohl man einige Wirkungen der Interferone erst allmählich zu entdecken beginnt). Bei einer SPMS ohne Schübe besteht keine Indikation für eine immunsuppressive Eskalationstherapie. Da hätte ich starke Zweifel, ob das Risiko durch den Nutzen aufgewogen wird.
Bei was für einem Arzt ist dein Gatte denn in Behandlung? Das würde mich in diesem Zusammenhang interessieren. Ein Klinikarzt wechselt bekanntlich alle paar Jahre den Arbeitsplatz, und kennt seine Patienten nicht wirklich, dazu sieht er sie zu selten. Man verliert sich bald aus den Augen, oft für immer. Da mag er schon mal was riskieren und hat auch weniger Hemmungen, sich nicht so streng an die Anwendungsvorschriften eines Medikaments zu halten, die der gewöhnliche Patient wahrscheinlich ohnehin nicht gelesen hat (obwohl man sie ergoogeln kann).
Viele junge, strebsame Klinikärzte träumen gewiss davon, Indikationen durch erfolgreiche Therapieversuche zu erweitern, darüber Vorträge zu halten und Artikel zu schreiben, z.B.: “Natalizumab als Therapieoption beim sekundär progredienten Verlauf ohne Entzündungsaktivität” - und für einen einzigen Vortrag bei einem Neurologenkongress vom Hersteller so viel einzusacken, wie ein niedergelassener Kleinstadtneuro ohne jeglichen Publikationsausstoß in einem halben Monat durch echte, nicht immer leichte Arbeit an kranken Menschen mit meist unspektakulären Krankheiten verdient.
Wenn eine Arzt-Patienten-Beziehung schon ein paar Jahre besteht, man sich alle paar Wochen sieht und schon einiges voneinander weiß, dann setzt der Arzt sich nicht mehr so leicht über Bedenken hinweg wie bei einem Anonymus, den er mal eine Woche auf seiner Station liegen hatte und dann nie wieder, denn man steht einander dann doch etwa so nahe wie langjährige Nachbarn, die sich vom Sehen und von ab und zu einem Schwätzchen kennen. Dann heißt es: “Ich möchte Ihnen das nicht geben, bei meiner Frau würde ich es auch nicht anwenden. Und, offen gestanden, wenn Ihnen was passieren würde, z.B. PML, könnte ich nicht mehr ruhig dabei zusehen, wie unser Kleiner mit seinem Teddy spielt, den Sie uns zu seiner Geburt geschenkt haben. Da bleiben wir lieber beim Altbewährten.”
Mir ist mein bescheidener Kleinstadtneuro lieber als ein berühmter Rächer der Entmarkten, der nach dem “No risk - no fun”-Prinzip behandelt, womöglich mal “Figaro-hier” mit monoklonalen Antikörpern klotzt, mal “Figaro-da” in Venen herumstochert und immer auf dem Grat zwischen Medizinnobelpreis einerseits und Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung andererseits balanciert. Nee, machen wir nicht. Schon gar nicht, wenn es sich um ein neues Medikament handelt, mit dem man noch keine Langzeiterfahrungen hat.
Ich würde die Finger vom Fingo lassen. Mein Neuro auch - der übrigens meine Venen aus eigenem Antrieb schon transkraniell sonographiert hat, als das Thema CCSVI hier gerade erst aufkam, nämlich im Sommer 2009, weil er mal wissen wollte, ob er bei mir was Zamboni-Taugliches findet. Nachdem er sich eingelesen hatte, hat er es im Januar 2010 nochmal gemacht. Nichts gefunden.
Zusammenfassung: Lieber erst mal auf Interferon-NAbs testen, wenn negativ, dann auf Rebif 44 oder Beta/Extavia umsteigen, wenn positiv, Wechsel auf Cop überlegen. Ansonsten viel Krankengymnastik machen, Vitamin D testen lassen, viel in die Sonne gehen, bei Infektionsgefahr durchs Baby mehrmals täglich heißes Wasser und Seife für Gesicht und Hände, und tüchtig schrubben. Das beste Mittel gegen Ansteckung ist Hygiene. Und wenn ein Schub kommt, dann halt behandeln oder aussitzen, je nach Gusto. Ein Papa im Rollstuhl wäre eurem Kind bestimmt immer noch lieber als einer auf dem Friedhof.
Alles Gute und liebe Grüße!
Renate