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Umgekehrte Impfung: MS einfach "wegimpfen"?

Eine Impfung gegen MS: Hört sich einfach an, ist aber kompliziert. Im Unterschied zu Grippe-Erregern kennen wir den genauen Angriffspunkt (noch) nicht.

Gegen Multiple Sklerose impfen, möglichst auch dann noch, wenn sie bereits ausgebrochen ist. Mit einem Piks die Krankheit stoppen: Das hört sich zu schön an, um wahr zu sein. Und doch wird genau daran geforscht.

Man spricht von einer inversen, einer umgekehrten Impfung also. Das Immunsystem soll hierbei, im Unterschied zu herkömmlichen Impfungen, nicht "scharf" gemacht werden auf bestimmte Erreger, um diese dann schnell und gründlich beseitigen zu können. Sondern umgekehrt: Das zu fleißige Immunsystem, welches sich versehentlich gegen den eigenen Körper richtet, soll gelassener werden, soll damit aufhören, körpereigenes Gewebe anzugreifen. Soll wieder toleranter werden. Eine umgekehrte Impfung als Umerziehungsmaßnahme für aus der Reihe tanzende Immunsysteme sozusagen.

Gegen Multiple Sklerose impfen?

Übereifrige Immunsysteme finden sich bei vielen Krankheitsbildern, zum Beispiel auch bei Allergien. Die Strategie, das Immunsystem hier wieder toleranter zu machen, ist schon ziemlich alt, wird etwa mit der (Jahre dauernden) Desensibilisierung auch längst praktiziert. Jedoch mit teils eher bescheidenem Erfolg.

Der Mechanismus hinter einer inversen Impfung gegen MS ist nur im Ziel ähnlich mit der Desensibilisierung bei Allergien. Auch handelt es sich bei Autoimmunerkrankungen wie der MS um Entgleisungen des Immunsystems, die sich gegen den eigenen Körper richten, nicht gegen fremde Stoffe wie Birkenpollen.

Die Methode ist eine völlig andere. Hier versucht man nicht etwa, das Immunsystem indirekt mit Myelingaben über Jahre hinweg zu desensibilisieren, sondern das fehlgeleitete Immunsystem direkt und mit nur einer Impfung "umzupolen".

Dazu werden die körpereigenen Antigene in der Leber, welche zum Beispiel eine Multiple Sklerose auslösen, als unschädlich gekennzeichnet. Sie erhalten ein Etikett, ein Label namens "unschädlich". Das erreichten die US-amerikanischen Forscher in Tiermodellen, indem sie dem körpereigenen, schädlichen Antigen einen als unschädlich bekannten Zucker anhefteten, den das periphere Immunsystem immer toleriert: N-Acetyl-Galactosamin, kurz: pGal (über diesen Zucker hatte amsel.de bereits in anderem Zusammenhang berichtet).

ANK-700: Im Tiermodell klappt's.

Sowohl bei Nagern wie bei Primaten funktionierte die Methode des Schweizer Biotech-Entwicklers Anokion SA, und sogar dann, wenn sie die Tiere erst nach Start der (künstlich hervorgerufenen) Erkrankung geimpft haben. Nach den positiven Studien aus Mausmodellen und solchen mit Primaten, läuft im Moment eine Phase-1-Studie mit MS-betroffenen Patientinnen und Patienten. Oberstes Ziel dieser Phase-1-Studie ist die Sicherheit und Verträglichkeit des Impfstoffes namens ANK-700.

Die Rekrutierung der Probanden und Probandinnen ist nun abgeschlossen. Und es liegen bereits Daten aus dem ersten Teil der Phase-1-Studie vor. Demnach zeigte sich ANK-700 bei allen getesteten Dosierungen sicher und gut verträglich ist. Vorläufige Biomarkerdaten deuten außerdem auf eine antigenspezifischen Immuntoleranz hin und es gibt Hinweise auf die Unterdrückung verwandter Myelin-Antigene, ein gewollter Nebeneffekt, der für die Behandlung komplexer Autoimmunerkrankungen wie MS wichtig ist.

Noch viele Fragezeichen bei der MS-Impfung

Bei allen vorab positiv stimmenden Trends: Diese Daten sind noch sehr vage. Erst wenn Phase-3-Studien am Menschen erfolgreich durchlaufen sind, kann eine Zulassung erfolgen. Bisher – Phase 1 ist noch nicht einmal abgeschlossen – ist nicht klar,

  • ob sich die positiven Ergebnisse aus den Tierstudien überhaupt auf den Menschen übertragen lassen. Man kennt beim Menschen nicht das (eine oder auch mehrere) körpereigene Antigen; das Ziel-Antigen ist also nicht bekannt. In den Tiermodellen kennt man es hingegen sehr gut, weil man die Tiermodell-Krankheiten ja selbst künstlich bei den Tieren auslöst.
  • wie stark die Wirkung sein wird, für den Fall, dass man die Methode vom Tier auf den Menschen übertragen kann.
  • ob sich die Impfung zusätzlich zu Immunmodulatoren verabreichen ließe.
  • welche Nebenwirkungen diese Impfung haben wird.
  • wie lange sie anhält und ob man überhaupt "nachimpfen" könnte.
  • welche Wechselwirkungen mit bereits verabreichten MS-Mitteln bestehen.
  • wieviel sie Menschen mit bereits zahlreichen Behinderungen bringen würde.

Die Hoffnung der Wissenschaftler ist natürlich, eine bessere Therapie als die bereits zugelassenen zu finden. Nicht ganze Teile des Immunsystems zu unterdrücken (und damit zum Beispiel eine erhöhte Infektanfälligkeit in Kauf zu nehmen), sondern gezielt nur die Bereiche zu ändern, die bei einer MS "schieflaufen". Mit der Methode möglicherweise auch andere Autoimmunerkrankungen zu lindern. Neben Multipler Sklerose ist vom gleichen Entwickler derzeit auch eine Impfung gegen Zöliakie in der Entwicklung. Hierzu sind Phase-1-Daten bereits veröffentlicht (Arbeitsname KAN-101).

Die MoveS-it-Studie zu Multipler Sklerose wird nach ihrem Abschluss mit einem 12-monatigen Sicherheits-Follow-up fortgesetzt. Voraussichtliches Ende ist in der ersten Hälfte 2024. Anokion geht davon aus, die vollständigen Ergebnisse seiner klinischen Studie in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 zu veröffentlichen. In Phase-1 geht es zunächst um die Sicherheit des Wirkstoffes. Daten zur Wirksamkeit werden zwar auch erhoben, sind bei kleiner Patientenzahl (33) und kurzer Studiendauer (1 Jahr) jedoch noch nicht aussagekräftig, auch wenn man versucht, daraus Trends abzulesen. Mit einer Zulassung von ANK-700, sollte alles passen, ist erfahrungsgemäß erst in rund zehn Jahren zu rechnen.

Zuletzt hatte amsel.de Ende 2021 über positive Tierstudien zur Impfung gegen MS berichtet. Die deutsche Firma Biontech hatte über ihren mRNA-Impfstoff gegen MS berichtet.

Quellen: Lancet zu KAN-101, 14.06.2023; Pressemitteilung von Ankonio, 12.09.2023, clinicaltrials.gov, abgerufen am 29.09.2023.

Redaktion: AMSEL e.V., 29.09.2023