Hallo Swetlana,
(schöner Name übrigens - “Licht”!) erst mal, es gibt keine doofen Fragen, nur doofe Antworten. Wer nicht fragt, bleibt dumm.
“Ich hab mal ein bißchen bei AMSEL rumgesurft und ein Interview gefunden, wonach es eher egal ist, welches Medikament man spritzt?”
Ja-in. Es gibt Gründe, sich für das eine und gegen das andere zu entscheiden. Erst mal gibt es objektive Gründe dagegen - sogenannte “Kontraindikationen” oder Gegenanzeigen. Ich habe z.B. eine Kontraindikation gegen Avonex: ich bin Marcumarpatientin und darf nichts intramuskulär spritzen, nur subkutan.
Ich habe auch eine gegen Copaxone: ich bin Allergikerin, und meine Haut und meine Bronchien spielen gerne mal verrückt. Daher kommt auch Cop für mich nicht in Frage. Zur Auswahl standen bei mir Betaferon und Rebif: Beta ist als Trockensubstanz mit Lösungsmittel im Handel, Rebif als Fertigspritzen.
Das ist ein erheblicher Unterschied, denn in den Fertigspritzen müssen Stabilisatoren und Konservierungsmittel drin sein. Rebif enthält solche Stoffe (Schaumhemmer, Benzylalkohol, Essigsäure) und ist pH-sauer.
Betaferon besteht dagegen nur aus rekombinantem Interferon beta-1b, synthetisiert von gentechnisch modifizierten Colibakterien (wie z.B. auch Humaninsulin). Sonst sind nur noch Humanalbumin (aus Spenderblut), Mannitol und Salzwasser darin. Betaferon ist pH-neutral.
Außerdem hatte Beta, als ich die Diagnose bekam, schon eine Zulassung für SPMS, und SP war ich damals wahrscheinlich schon. Also fiel mir die Entscheidung für Betaferon leicht. Ich hatte auch Vertrauen zu dem guten alten Stoff, der zum Zeitpunkt meiner Diagnose schon seit 12 Jahren auf dem Markt war. Die Zulassungsstudien für Betaferon begannen 1988 - neun Jahre, nachdem es zum ersten Mal gelungen war, Interferon gentechnisch zu synthetisieren. Vorher musste es aus Spenderblut gewonnen werden, und jedes Mikrogramm kostete Tausende.
Einen Nachteil hat Betaferon: Interferon beta-1b ist nicht ganz humanidentisch wie Interferon beta-1a (Avonex und Rebif). Dadurch induziert es häufiger als Interferon beta-1a neutralisierende Antikörper. Inwieweit diese die Wirkung beeinträchtigen, und ob sie bleiben oder auch wieder verschwinden, ist noch nicht restlos geklärt.
Als ich die Diagnose bekam, sagte ich dem Arzt gleich, dass ich mir Betaferon ausgesucht habe, so dass er sich den Vortrag, den er mir vermutlich halten wollte, schenken konnte. In der Roten Liste lesen kann ich selber, und das hatte ich längst getan. 2 oder 3 Tage nach der Diagnose setzte ich mir die erste Spritze. Inzwischen waren es etwa 1.000.
Es gibt natürlich auch subjektive Gründe: man wählt das Medi, das man am besten in seinen Alltagsablauf integrieren kann. Faustregel: je öfter zu spritzen, desto weniger Nebenwirkungen - wegen des Gewöhnungseffekts.
-Cop, täglich gespritzt: wenig NW.
-Betaferon, alle 2 Tage: mäßige NW.
-Rebif, 3 mal in der Woche: mäßige NW, etwas stärkere nach der 72-Stunden-Pause.
-Avonex, einmal in der Woche: starke und lang anhaltende NW.
Das heißt aber nicht, dass das bei allen Anwendern so ist! Die MS ist bei jedem anders, und auch die NW der Medis.
“Und was passiert, wenn man nicht spritzen würde?”
Wenn man das wüsste! Für den Einzelfall lässt sich das nicht vorhersagen, und wer weiß, ob die diversen, meist aus dem Kaffeesatz stammenden “Prognoseregeln” auf einen zutreffen, oder ob man die Ausnahme davon bildet!
“Wenn die MS mit einer Sehnerventzündung, an einem Freitag um fünf oder bei abnehmendem Mond beginnt, wird man nach 7 Jahren und 3 Monaten inkontinent.” Sowas ist lachhaft, wie alle Orakeleien. Prognosen sind nicht möglich!
Ich weiß nur, was bei mir passiert ist, bevor ich die Diagnose hatte und mit der Basistherapie angefangen habe: Nach mehreren Jahren (möglicherweise 10 - 15) ohne bleibende Schäden, in denen sie auch niemandem auffiel (auch mir nicht), gab meine MS ab 2003 Gas und brachte mich in zwei Jahren auf EDSS 6.
Zuerst wollte mir niemand glauben, dass man mit Ende 40 noch MS kriegen kann. Ich kriegte bloß den Vogel gezeigt, und es hieß: “Das sind die Wechseljahre”, usw. usf. 2005, in meinem 51. Lebensjahr, kam der “Crash” (übrigens in einer Phase, in der es mir total super ging). Effekt: volle Erwerbsminderung, GdB 80 und aG. Ich musste auch das Autofahren aufgeben. Wenn meine MS in dem Tempo weiter gemacht hätte, wäre ich wohl schon ein Pflegefall. (Aber Prognosen sind nicht möglich.)
“Weiterhin habe ich gelesen, daß Schübe mit Kortison behandelt werden. Wie ist es da mit den Nebenwirkungen?”
Das kommt darauf an, welches Cortison man verwendet und wie lang man es einnimmt! Verallgemeinern lässt sich da gar nichts. Es gibt ganz unterschiedliche Stoffe mit unterschiedlichen Nebenwirkungen, z.B. Prednisolon, Methylprednisolon, Flucortolon, Triamcinolon, Betamethason, Dexamethason …
Allen gemeinsam ist, dass sie synthetische Nachbildungen des in der Nebennierenrinde gebildeten Hormons Cortisol sind, von dem der Körper täglich (mit dem Höhepunkt frühmorgens) eine Menge produziert, die ca 7,5 mg Prednisolon entspricht.
Alle wirken immunsuppressiv, entzündungshemmend und aufputschend. Manche beeinflussen stark den Mineralstoffhaushalt, führen zu Wassereinlagerungen, Schwäche und Herzrasen, andere nicht. Einige wirken nur wenige Stunden lang, andere 2 Tage. Alle können bei Langzeitanwendung Folgeschäden wie Osteoporose, Grünen und Grauen Star und Diabetes hervorrufen. Daher sollte man sie so kurz wie möglich einnehmen und möglichst rasch wieder absetzen, nicht die Einnahmedauer durch Ausschleichen noch verlängern.
Cortison im akuten Schub hat den Zweck, die Blut-Hirn-Schranke wieder so dicht zu machen, wie sie sein sollte, und dadurch die Entzündung zu stoppen. Dass das funktioniert, würde man merken, wenn man nach einem Cortisonstoß ein MRT mit Kontrastmittel machen würde. Das KM geht dann nämlich nicht mehr durch die BHS. Deswegen muss man das MRT immer vor dem Cortisonstoß machen, sonst sieht man nicht, ob eine Schrankenstörung besteht.
Ich habe bei mir die Erfahrung gemacht, dass die unbehandelten Schübe, die ich vor meiner Diagnose und Therapiebeginn hatte, so lange an den Nerven gefressen haben, dass bleibende Schäden zurückgeblieben sind, ob es nun die Augen sind oder das Rückenmark. Erholt habe ich mich nur von den Schüben, die mit Dexamethason (dem von mir bevorzugten Cortison) ruckzuck gestoppt wurden. Ich nehme davon als Stoßtherapie 24 mg, nach 3 Tagen weniger, insgesamt 5 - 7 Tage lang.
Mir gefällt das Bild mit dem Entzündungsherd als Brand: je schneller man ihn löscht, desto weniger zerstört er. Ich glaube, dass viele Negativerfahrungen, die mit Cortison als Schubtherapie gesammelt wurden, einmal dadurch kamen, dass man den Nebenwirkungen von Prednisolon nicht ausreichend vorgebeugt hat (durch Magenschutz, natriumarme Ernährung und Hypokaliämieprophylaxe), und zum anderen dadurch, dass es ausgeschlichen wurde.
Cortison bremst bei längerer Anwendung das Zellwachstum und beeinträchtigt die Wundheilung. Ich halte es für möglich, dass es das bei der Regeneration von MS-Läsionen auch tut. Darum befürworte ich, es wirklich nur als kurzen Stoß zu verabreichen, wie einen kräftigen Wasserschwall, mit dem man einen Brand löscht, aber dann ist Schluss damit, denn den Schaden reparieren kann das Wasser nicht, und mehr Wasser, als man zum Löschen braucht, ist kontraproduktiv.
Wenn man noch tagelang damit herumkleckert, ist es, als würde man nach dem Löschen des Brandes mit der Gießkanne die angekohlten Möbel noch ein paar Tage lang einweichen - was soll das noch bringen, außer dass zum Brand- auch noch ein Wasserschaden kommt, der noch schwieriger zu reparieren ist.
Ich kann aber nur für mich sprechen und von meinen Erfahrungen erzählen, und von den Schlüssen, die ich daraus ziehe. Allerdings kenne ich Glucocorticoide seit 40 Jahren, dadurch, dass ich Allergikerin bin. Andere mögen an ihrem Leibe andere Erfahrungen gemacht haben.
“Irgendwo stand auch, daß ein Schub ohne Kortison genauso lange dauert. Das kann ich ehrlich gesagt kaum glauben.”
Ich auch nicht! Meine persönlichen Erfahrungen sind gegenteilig. Je länger die Entzündung frisst, desto größer der Schaden, den sie anrichtet, und größere Wunden heilen natürlich langsamer zu als kleinere. Selbst mein Neuro gibt aber inzwischen zu, dass Neurologen, was den Umgang mit Glucocorticoiden angeht, noch viel nachlernen müssen, und damit wesentlich schlechter umgehen können als Allergologen und Rheumatologen.
Cortisone sind relativ alte Medikamente, auf denen längst kein Patentschutz mehr drauf ist: z.B. wurde Dexamethason um 1960 entwickelt, da war mein Neuro noch nicht mal geboren. Es gibt -zigtausende Generika davon, und Studien rechnen sich längst nicht mehr. So haben viele Kliniken, Ärzte und Patienten ihre “Hausrezepte”.
Ich habe meines für die Anwendung meines Lieblingscortisons Dexamethason. Das habe ich in der Hausapotheke. Mein Neuro weiß, dass ich es nur nehme, wenn es nötig ist. Ob man im Schub ein Cortison nimmt oder nicht, kommt auf den Einzelfall an! Wegen drei tauben Fingern oder einem kribbelnden Zeh nehme ich es nicht, und wegen einem Pseudoschub durch Hitze oder durch eine Infektion erst recht nicht (im letzteren Fall wäre es kontraindiziert).
Welches Cortison einem am besten bekommt, und was man dazu nehmen muss, damit es einem bekommt, ist auch wieder bei jedem anders. Es gibt Leute, die stecken 5 mal 2000 mg Prednisolon oder Methylprednisolon i.v. problemlos weg. Sicher ist nur eins: verallgemeinern lässt sich nichts. Jede MS ist anders, und wahrscheinlich ist es nicht mal nur eine Krankheit, sondern nur ein Symptomenkomplex, der unterschiedliche Ursachen haben kann, von der Virusinfektion bis zur venösen Abflusstörung. Man darf gespannt sein, was sich da in nächster Zeit tut.
Liebe Grüße
Renate