Weil mein guter Freund gestern mal wieder davon angefangen hat:

Wir sitzen also am Dienstag abend, so wie seit 25 Jahren üblich, in ner Kneipe, (ich bin vorher
beim reinhumpeln mal wieder gestolpert und hab mich auf dem Kneipenboden langgelegt).

Da fängt er irgendwann an: Martin du kämpfst zu wenig, Du warst schon früher beim
Surfen und Skifahren ein zu bequemer Mensch, du kannst alles nur keinen inneren Schweinehund
überwinden, mit Deinem Prim.Chron.Progredienten Verlauf.
Dir würds viel besser gehen, wenn Du Dich mehr bewegen würdest. Du läufst die paar Meter vom
Auto in Dein Büro,
Du sitzt den ganzen Tag vorm PC, abends läufst Du zum Auto und fährst heim, zweimal die Woche
gehst Du zur KG (seit Diagnose vor 2,5Jahrn und mehr machst Du nicht. Wenn Du so weitermachst kannst Du bald überhaupt nicht mehr laufen.
Das bischen KG seit 2,5 Jahren, was bringt das schon, du musst täglich ein Übungsprogramm absolvieren.

Ich sage: ich mach mehr: ich quäle mich morgens aus dem Bett, ziehe mich selbst an, humple ins Bad,
wasch mich selber, zieh mich selbst an, humple ins Esszimmer, esse selbst, humple in die Garage,Fahr
einhändig Auto,die linke Hand lenkt, die rechte kann grad den Automatikghebel noch bewegen, ich geb mit
rechtem Fuss Gas, bremse mit dem linken Fuss, muss mich zum Büro erst mal 10 Stufen hoch quälen und humple
nen 25 meter langen Flur zu meinem Büro.
Ich schreibe mit der linken Hand auf der Tastatur, ich kann telefonieren und die Maus bedienen, ich bearbeite
9 Stunden täglich meine IT Projekte und verdiene immer noch ein SchweineGeld dabei.
Abends Flur, Treppe runter, Auto bringt mich heim----ich bin kaputt, wenn ich mich dann auf die Couch lege.
Jeden Tag muss ich kämpfen um überhaupt aufzustehen. Laufend quäl ich mich zu irgendeinem Arzt,mach Akupunktur,
Trinke Chinesischen Heilkräutertee, Chemotherapie (MTX) und Cortison und Antispatikas…ich mach alles was
ihr wollt.

So wie ich das schon von etlichen Bekannten vernommen habe, sind wir MSler wohl selbst Schuld, wenn einige
von uns nicht mehr laufen können: wärn wir mehr gelaufen, könnten wir noch laufen.
Also zumindest könnten wir was verzögern wenn wir uns nur bewegen würden, ist die landläufige Meinung.

Mich hat das heut Nacht nicht mehr schlafen lassen, ich hab dann meine Frau geweckt und Ihr das gesagt,
was mein Freund da wieder von mir will.

Sie hat gesagt:

“Ja was glaubst Du, wieviele Leute es gut mit Dir meinen, ich werde ständig angesprochen:
Wie gehts Martin—er muss sich mehr bewegen, Das sagen fast alle guten Bekannten hinter Deinem Rücken.
Ich muss mir das permanent anhören, dass ich Dich zu wenig motiviere, Dich mehr zu bewegen.
Irgendwann hab ich dann auch einfach genug, ich kann das nicht mehr hören----deshalb hab ich ja auch schon mal
aus lauter Frust zu Dir gesagt: jetzt sitzt Du ja schon wieder—> beweg Dich doch mehr. Eigentlich bin doch ich
Schuld, Du bewegst Dich zu wenig, deshalb läufst du so schlecht.”

So bin ich wenigstens dahinter gekommen, warum meine Frau manchmal so unglücklich mit mir ist.
So können Partnerprobleme erst entstehen.
Die Leute schonen mich und sagens meist nicht zu mir selbst sondern eben zu meiner Frau und die kann MS bald
mehr nicht hören.
Es ist schlimm, dass es so ist, warum dürfen wir nicht das auch mal ne Weile vergessen?

An die Sportler unter Euch. Bringt Euch das Schweinehund überwinden, etwas, wenn ihr den Schmerz überwindet und
Euch täglich mehr quält als ich.
Ok Bewegung ist wohl immer gut, aber wie stark kämpft ihr?
Soll ich jetzt täglich solange laufen, bis ich umfalle?

Wie ist Eure Erfahrung mit den gutgemeinten Ratschlägen Eurer Lieben?

Lieber Martin,
nur ein ganz kleiner Trost vielleicht/hoffentlich. (auch aus zeitlichen Gründen) Meine MS ist bis jetzt relativ harmlos (im wesentlichen Empfindungsstörungen und Schmerzen). Ich mache sehr viel Sport - Fitnessstudio, Tanzen, Tauchen. Bei mir reagieren die Leute entweder -solang die sowas kann gehts der doch blendend !! Oder: Na soviel wie die macht, muß es ihr doch schlecht gehen ! Also, eigentlich ist es völlig egal was Du machst ! Lass Dich nicht unter Druck setzen. Vielleicht siebt ihr mal bei Euren Freunden. Wirklich Freunde mit Verständnis, wiegen alle Bekannten und Nachbarn, Kollegen die blöd reagieren auf.
Liebe Grüße und alles Gute Andrea
PS.: Vielleicht noch ein praktischer Rat, lasst Euch mal in einem AMSEL-Zentrum beraten, wie ihr mit solchen Situationen umgehen könnt, die machen sowas auch für die Partner.

guten morgen, martin
ja, ja, das unverständnis der “mitmenschen” kann ziemlich lästig werden!
ich selbst hab nen pp-ms-verlauf und bin mittlerweile nicht mehr gehfähig. s re. ärmchen und s li. auge wollen auch nicht so recht funktionieren.
ich war mal ziemlich sportlich, hatte nen tollen job in der umwelttechnik und dacht, wenn du nur selbst alles tust, was möglich ist, dann wirsde die blöde ms schon in den griff kriegen, so nach dem motto: “nem inginör fällt doch nix schwör”.
ich fing also wieder an, langlauf zu intensivieren, war mehrmals in der woche schwimmen, ging ins fitnessstudio, machte 3mal pro woche physiotherapie, besorgte mir für zu hause n ergometerfahrrad, usw. das ganze zog sich über ca. 10 jahre und meine ausfälle und symptome wurden trotzdem immer stärker, aber nicht schubweise, sondern langsam schleichend.
was passierte mit mir: ich wurde immer unzufriedener und aggresiver, und die leute fingen an, mir aus dem weg zu gehen. auch meine familie hatte “mich auszuhalten”
Wenn ich so weitergemacht hätte, dann wäre ich mglw. auch einer der leider vielen schwererbetroffenen und total frustrierten msler geworden.
ich hab gelernt, dass man sich erst mal selbst verstehen muß und begreifen lernen sollte, was mit sich selbst los ist. andere menschen können das natürlich noch weniger verstehen, zumal man oft selbst nicht weiß, was läuft.

bei mir wars so, dass ich als “Kranker” anfing, den “gesunden” zu erklären, dass sie doch alle auch nur angst haben, evtl. “unheilbar” krank zu werden, und deshalb oft mit irrationalen und sonstigen vorschlägen versuchen, ihre eigene angst zu bewältigen. tja, angst macht manchmal ziemlich blind und unvernünftig.
sicher gibts kein patentrezept zur lebens- und krankheitsbewältigung. iss wohl auch ne charakterfrage.
ich selbst betrachte meine zweifellos ziemlich starke lädiertheit mittlerweile sogar - das hört sich vielleicht fast pervers an - als eine art von neuer herausforderung und sogar als bereicherung für neue dinge, an denen ich früher achtlos vorbeigeflitzt wäre.
nur, lernen müssen wir alle selbst, aber, wir haben die chance dazu!
iss zwar abgedroschen, aber wie sagte schon laotse, der weise chinese: “der weg ist das ziel”

Wie oft habe ich gerade diesen Satz schon gehört “geh mehr spazieren, dann wirst du auch wacher”
Bei meiner Mutter ist mir einmal der Kragen geplatzt. Ich sagte “du hast recht, alle MS Kranken die irgendwann im Rollstuhl landen waren am Anfang faule Schweine”
Seitdem hat sie es nie wieder gesagt - aber sie denkt es sicher immer noch.

Ich glaube wirklich verstehen können das nur Leute, die es auch erleben. Ich sage nur noch selten jemandem wie es mir wirklich geht. Man sieht mir nichts an, also kann ich auch nicht krank sein.

LG Ka.

Hi Martin und ihr anderen,

ich denke das Hauptproblem bei den Leute mit diesen guten Ratschlägen zur Bewegung ist das, daß sie nicht wissen, daß es uns als MS’lern nicht die Bohne nutzt 'nen Muskel zu trainieren, wenn die dazugehörigen Nerven, die diesen Muskel steuern, langsam aber sicher über die Wupper gehen oder gar schon im Orkus verschwunden sind.

Insoweit kann man also mit Sport hier wenig zur Verbesserung der MS beitragen oder gar ihren Verlauf verändern oder aufhalten.

Auch Physiotherapie kann hier keinen Beitrag zur Verlangsamung des Verlaufs leisten, jedoch kann mit ihr erlernt werden bestehende/einsetzende Behinderungen durch neue Bewegungsabläufe zu ersetzen und dazu beitragen den gesamten Bewegungsapparat auch bei Einschränkungen der Mobilität beweglich zu halten.

Ich persönlich habe bisher immer ganz gute Erfahrungen gemacht, wenn ich diese “Jetzt-mach-doch-mal-mehr-Sport-Gute-Ratschläge-Erteiler” über den Sachverhalt aufgeklärt habe. Zumindest mir und meinem Mann gegenüber sind diese Stimmen mittlerweile vollkommen verstummt.

Viele Grüße,

Heike