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Multiple Sklerose (MS) und Kognition

Nahezu jeder zweite MS-Kranke leidet unter kognitiven Problemen. Doch was versteht man unter kognitiven Funktionen? Warum und inwieweit können diese durch die MS eingeschränkt sein? Welche Bedeutung haben sie? Wie lassen sie sich diagnostizieren und behandeln? Heike Meißner, Klinische Neuropsychologin GNP, Psychologische Psychotherapeutin, Leitung Neuropsychologie am Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof, Bad Wildbad, klärt auf.

Der Begriff „kognitiv“ ist auf das lateinische Wort „cognoscere“ zurückzuführen, welches „erkennen oder wissen“ bedeutet. Demzufolge umfassen kognitive Funktionen alle geistigen Fähigkeiten, die erforderlich sind, um Informationen aus der Umwelt wahrzunehmen und zu verarbeiten, wie z. B. Aufmerksamkeit und Gedächtnis, sprachliche Fertigkeiten oder die sogenannten Exekutivfunktionen, die für Kreativität, Problemlösen und Planen stehen.

Kognitive Störungen bei Multipler Sklerose

Kognitive Störungen treten bei allen Verlaufsformen der MS und in allen Krankheitsstadien auf, dennoch sind Menschen mit progredientem Verlauf der MS häufiger und schwerer betroffen als solche mit schubförmigem Verlauf. Das Auftreten kognitiver Störungen ist zudem mit einer längeren Krankheitsdauer, einem höheren Behinderungsgrad und fortgeschrittenem Alter assoziiert.

Bei Menschen mit MS können verschiedene Aspekte der Kognition beeinträchtigt sein, dazu zählen insbesondere

  • Aufmerksamkeit und Konzentration,
  • Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit,
  • Schwierigkeiten beim Planen und gezielten Handeln sowie
  • Gedächtnisstörungen.

Einschränkungen der räumlichen Wahrnehmung oder des räumlichen Vorstellungsvermögens sind hingegen eher selten. Angst vor einer klassischen Demenz im Sinne eines generellen intellektuellen Abbaus ist bei MS-Betroffenen hingegen unbegründet, da sie bei MS-Betroffenen nur sehr selten auftritt.

Auswirkungen der kognitiven Störungen bei MS

Gerade weil kognitive Störungen für Außenstehende häufig nicht offensichtlich sind, stellen sie für die Betroffenen eine erhebliche Belastung dar. Ähnlich wie Fatigue, Depressionen und Ängste, auch unsichtbare Symptome der Multiplen Sklerose, haben kognitive Störungen einen deutlichen Einfluss auf die Lebensqualität.

Viele Betroffene beklagen mangelndes Verständnis oder fehlende Rücksichtnahme des Umfelds in Bezug auf diese unsichtbaren Symptome („Hidden symptoms“), was im Alltag und Beruf zu vermehrten Konflikten, Frustration und im schlimmsten Fall zu Resignation führen kann. Gleichzeitig führen kognitive Probleme und Fatigue häufig zu vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit. Laut einer deutschen Untersuchung zählen kognitive Störungen zu den häufigsten Gründen für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben und sind einer der wichtigsten Gründe für Schwierigkeiten am Arbeitsplatz.

Neben der Berufsausübung können sich kognitive Störungen auch auf den Alltag der Betroffenen in vielfältiger Weise auswirken. So ist ein Einfluss der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und der visuell-räumlichen Wahrnehmung sowie der Fatigue auf die Fahreignung und das Unfallrisiko gut belegt. Die beim Fahren erlebte Anstrengung oder Unsicherheit veranlasst viele MS-Betroffene auf das Autofahren zu verzichten, was sich häufig auch auf die Möglichkeiten zu Teilhabe am sozialen Leben auswirkt.

Aber auch das Treffen komplexer Entscheidungen oder das Planen finanzieller Transaktionen kann, z. B. bei Beeinträchtigungen der Exekutivfunktionen oder der Verarbeitungsgeschwindigkeit, eine große Herausforderung darstellen bzw. von den Betroffenen als Überforderung erlebt werden.

Ursachen kognitiver Störungen bei MS

Als zugrundeliegende Mechanismen der Entstehung von kognitiven Beeinträchtigungen werden verschiedene Faktoren angenommen. Während lange Zeit vermutet wurde, dass die Anzahl der Läsionen ausschlaggebend für das Entstehen von kognitiven Störungen ist, herrscht inzwischen jedoch Übereinkunft darüber, dass vor allem die Lokalisation der Läsionen und die Unterbrechung wichtiger Faserverbindungen (Diskonnektionssyndrom) deren Auftreten beeinflusst.

Interessant ist an dieser Stelle, dass nicht alle MS-Betroffene mit Veränderungen der grauen und weißen Substanz kognitive Defizite aufweisen. Als Erklärung wird dabei das Konzept der sogenannten Kognitionsreserve herangezogen. Die Kognitionsreserve entsteht aus der Ansammlung an Erfahrungen und intellektueller Stimulation und scheint einen individuellen Schutz darzustellen. Zur Einschätzung der Kognitionsreserve werden verschiedene Variablen herangezogen, darunter Bildung, sprachliche Kompetenz (z. B. Umfang des Vokabulars) und geistige Beanspruchung in der Freizeit (z. B. lesen, musizieren). Mehrere Studien konnten aufzeigen, dass eine größere Kognitionsreserve bis zu fünf Jahre vor einer Verschlechterung kognitiver Störungen schützt bzw. den Verlust kognitiver Funktionen abschwächt.

Diagnose "kognitive Störungen bei MS"

Aufgrund der erheblichen Bedeutung für die Lebensqualität ist das frühzeitige Erkennen und Behandeln von kognitiven Problemen besonders wichtig und sollte daher Bestandteil der regelmäßigen Untersuchungen sein. Zudem kann der kognitive Status bei der Bewertung einer möglichen Krankheitsprogression hilfreich sein.

Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) empfiehlt eine spezifische Anamnese, die den Schwerpunkt auf Schwierigkeiten im Alltag und Beruf legt. Dabei muss auf eine Abgrenzung zur Fatigue und Depression geachtet werden. Des Weiteren sollten kognitive Funktionen mithilfe eines standardisierten Testverfahrens objektiv erfasst werden. Um eine Überbelastung im Sinne eines „Overtesting“ zu vermeiden, wird ein gestuftes Vorgehen vorgeschlagen. Dieses Vorgehen empfiehlt zunächst eine orientierende Untersuchung (Screening), um frühzeitig Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen zu identifizieren.

Problematisch an diesen Screeningverfahren ist allerdings, dass sie nicht alle relevanten kognitiven Bereiche in ausreichendem Umfang erfassen. So sind typischerweise die Exekutivfunktionen, die verschiedene Kompetenzen wie z. B. schlussfolgerndes Denken, Problemlösefähigkeit und Arbeitsgedächtnis umfassen, in der Regel unterrepräsentiert, weshalb spätestens bei Hinweisen auf Beeinträchtigungen eine umfassende neuropsychologische Untersuchung unerlässlich ist.

Da kognitive Einschränkungen für die meisten Betroffenen eine hohe emotionale Belastung bedeuten, beinhaltet die neuropsychologische Therapie in der Regel auch Hilfestellungen bei der Bewältigung der krankheitsbedingten Belastungen. Auch die Einbeziehung der Angehörigen ist häufig von großer Bedeutung, da sie einerseits eine wichtige emotionale Unterstützung bieten können, gleichzeitig aber auch selbst durch die Erkrankung Belastungen erfahren.

Behandlungsmöglichkeiten kognitiver Störungen bei Multiple Sklerose

Eine wirksame medikamentöse Therapie der kognitiven Störungen steht nicht zur Verfügung, weshalb der neuropsychologischen Behandlung der größte Stellenwert in der Therapie zukommt. Diese kann ambulant oder im Rahmen einer stationären Rehabilitationsmaßnahme erfolgen.

Die neuropsychologische Behandlung basiert auf den Prinzipien der Wiederherstellung (Restitution) geschwächter Funktionen, des Ausgleichs (Kompensation) und der Anpassung (Adaptation) und sollte immer auf die individuelle Alltagsanforderung des Betroffenen abgestimmt sein, um das höchstmögliche Maß an Lebensqualität zu erhalten. Zur Restitutionsbehandlung stehen störungsspezifische computergestützte Verfahren zur Verfügung, die sich z. B. zur Verbesserung der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung und des Arbeitsgedächtnisses als wirksam erwiesen haben.

Kompensationsstrategien dienen unter anderem dazu, das bestehende Handicap auszugleichen, indem man das eigene Verhalten anpasst und bspw. durch ein entsprechendes Zeit- und Pausenmanagement eine verminderte Belastbarkeit kompensiert oder Gedächtnisstrategien erlernt. Einer erhöhten Ablenkbarkeit kann z. B. durch eine Veränderung des Arbeitsumfelds begegnet werden, indem man für eine ruhige Arbeitsumgebung und Vermeidung unnötiger Störquellen Sorge trägt.

In den letzten Jahren haben zudem elektronische Hilfen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Inzwischen stehen für viele Lebensbereiche sinnvolle Handy-APPs zur Verfügung, die je nach Bedarf eingesetzt werden können (z. B. Terminerinnerung, Einkaufslisten u. v. m.). Aber auch der Einsatz traditioneller Kalender oder Kameras hat sich insbesondere zur Kompensation von Gedächtnisstörungen bewährt.

Da kognitive Einschränkungen für die meisten Betroffenen eine hohe emotionale Belastung bedeuten, beinhaltet die neuropsychologische Therapie in der Regel auch Hilfestellungen bei der Bewältigung der krankheitsbedingten Belastungen. Auch die Einbeziehung der Angehörigen ist häufig von großer Bedeutung, da sie einerseits eine wichtige emotionale Unterstützung bieten können, gleichzeitig aber auch selbst durch die Erkrankung Belastungen erfahren.

Was kann man als Betroffener im Alltag selbst tun, um kognitive Fähigkeiten zu stärken?

Neben einem möglichst aktiven Lebensstil mit anregender Freizeitgestaltung konnten auch für ein regelmäßiges Ausdauertraining positive Effekte auf die kognitive Leistungsfähigkeit nachgewiesen werden. Neue Erfahrungen und Herausforderungen wie das Lernen einer Fremdsprache oder eines Instruments, aber auch gelebte Kreativität und das Pflegen sozialer Kontakte stellen hilfreiche Maßnahmen dar. Daneben ist der Einsatz spezieller Apps, wie z. B. das Trainingstool „MS Kognition“ der AMSEL, sinnvoll, um die kognitive Leistungsfähigkeit zu fördern. Da Stress die kognitive Leistungsfähigkeit negativ beeinflussen kann, sind auch regelmäßige Entspannungsübungen oder Meditationen empfehlenswert.

Zusammenfassung

Kognitive Einschränkungen finden sich in unterschiedlichem Ausmaß bei ca. 50 % aller MS-Betroffenen und haben einen wesentlichen Einfluss auf die Lebensqualität sowie den Verbleib im Berufsleben. Aufgrund der hohen Bedeutung ist eine frühzeitige Diagnostik und Behandlung ein wichtiger Bestandteil der MS-Therapie. Bei ersten Hinweisen auf relevante Beeinträchtigungen sollte daher eine umfassende neuropsychologische Diagnostik erfolgen, die die Basis der anschließenden individuellen therapeutischen Maßnahmen, bestehend aus Aufklärung, spezifischen Übungen zur Verbesserung der Einschränkungen, Vermittlung von Kompensationsstrategien und Nutzung geeigneter Hilfsmittel darstellt. Gleichzeitig ist die psychotherapeutische Begleitung zur Minderung des Stresserlebens und Reduktion der emotionalen Belastung ein zentraler Aspekt der Therapie, in die bei Bedarf auch die Angehörigen miteinbezogen werden sollten.

Autorin: Heike Meißner, Neurologisches Rehabilitationszentrum Quellenhof, Bad Wildbad
Quelle: together, 03.23

Redaktion: AMSEL e.V., 29.04.2024