"Seit 2009 gibt es den Welt MS Tag", eröffnet Prof. Dr. med. Horst Wiethölter seine Begrüßungsrede im Vortragssaal im Haus der Katholischen Kirche. Vergangenes Jahr hatte die AMSEL ihr Virtuelles Gehirn vorgestellt, davor wiederum zeigte AMSEL über mehrere Jahre immer am letzten Mittwoch im Mai ein begehbares Gehirn am Stuttgarter Hauptbahnhof. 2009, am ersten Welt MS Tag überhaupt, prangte ein 50 Quadratmeter großes Plakat in Stuttgart - Teil der damaligen DANKE-Kampagne der AMSEL.
Schon 2009 stand die Behandlung der Multiplen Sklerose im Zentrum. Doch man war "noch weit weg von einer optimalen Versorgungssituation", so der Vorstandsvorsitzende der AMSEL. In den vergangenen 10 Jahren habe sich viel getan auf dem therapeutischen Gebiet. So ist die "Zahl der Wirkstoffe auf 14 angewachsen" und hat sich damit seit 2009 verdoppelt. Außerdem gibt es inzwischen effektivere Medikamente. Zwei der folgenden Vorträge widmeten sich genau diesen Wirkstoffen - und solchen, die noch in der "Pipeline" stecken.
#weiterkommen bei schubförmiger MS - Nutzen und Risiken der Immuntherapie
Heilung und Regeneration seien "mittelfristig leider unwahrscheinlich", erklärte Privatdozent Dr. med. Oliver Neuhaus, "aber Wünsche können wir haben." Dazu zählen NEDA, also "No Evidence of Disease Activity", sowie MEDA, "Minimal Evidence of Disease Activity", zu deutsch: keiner oder minimaler Nachweis von Krankheitsaktivität, so Neuhaus, Mitglied im Ärztlichen Beirat der AMSEL.
Inzwischen sei es möglich, die Schubfrequenz um 30-70 % zu reduzieren und auch die Progression teilweise zu verlangsamen. Allerdings gäbe es keine Nebenwirkungsfreiheit. "Time is Brain", gab Neuhaus dabei zu bedenken und ging auf die 16 Medikamente (und 14 Wirkstoffe) genauer ein.
Von "nur" 30 % Schubratenreduktion bei den Interferonen und Glatirameracetat - "Man macht nichts falsch" kommentierte Neuhaus diese Medikamentengruppe; sie seien "ungefährlich". Über Teriflunomid und Tecfidera. Bis hin zu der Gruppe der stark wirksamen Therapeutika, also Mitoxantron, Natalizumab, Fingolimod, Alemtuzumab, Cladribin und Ocrelizumab, die zwar mehr Wirkung zugleich aber auch mehr Nebenwirkungen mit sich brächten. Die Crux bei der Behandlung der Multiplen Sklerose ist, dass ein stark wirksames Medikament ohne mögliche gefährliche Nebenwirkungen bislang fehlt.
#weiterkommen bei progredienter MS - neue Behandlungsansätze
Privatdozent Dr. med. Mathias Buttmann stellte Ocrelizumab, Siponimod, Biotin und laufende Studien vor. Zunächst machte er den Unterschied zum schubförmigen Entzündungsgeschehen deutlich. Bei der chronisch progredienten MS liege eine andere Form der Entzündung vor, da die Blut-Hirn-Schranke weitgehend dicht sei. Buttmann, ebenfalls Mitglied im Ärztlichen Beirat der AMSEL, bezeichnete sie als "niedergradige Entzündung im Gehirn, wie ein Schwelbrand". Der Mechanismus der chronisch progredienten Verläufe sei schwerer zu verstehen und schwerer zu behandeln. Dazu komme, dass Therapieeffekte schwerer zu erfassen seien, da z.B. keine Schubratenmessung möglich ist.
Die ORATORIO-Studie zu Ocrelizumab, dem "Keimling" unter den Therapien für die primär chronisch progrediente MS, sieht Buttmann differenziert, da hier "wie in jeder klinischen Studie viele verschiedene Menschen in einen Topf" geworfen worden seien. Manchen helfe das Medikament gut, anderen wahrscheinlich nicht. Die Untergruppenanalyse zeige, dass die Wirksamkeit von Ocrelizumab sich unter bestimmten Voraussetzungen erhöhe:
- je jünger die Patienten sind
- je kürzer die Erkrankungsdauer sei
- je weniger Einschränkungen vorhanden seien
- je rascher das Fortschreiten der Behinderung sei
- je größer die Entzündungsaktivität im MRT vor Beginn der Behandlung sei
Es komme dabei nie streng auf ein einzelnes Kriterium an, vielmehr sei unter Einbeziehung eines MS-Zentrums eine sorgfältig begründete Gesamtabwägung für oder gegen einen Therapieversuch zu treffen.
Siponimod, noch nicht zugelassen, habe bei der sekundär progredienten MS ebenfalls in der Gesamtgruppe moderate Behandlungseffekte gezeigt. Es habe sich ähnlich wie Ocrelizumab als wirksamer erwiesen bei jüngeren Patienten mit höherer entzündlicher Krankheitsaktivität. Der europäische Zulassungsantrag sei vom Hersteller für 2018 geplant.
An hochdosiertem Biotin (Vitamin H in der 10.000-fachen Dosierung der täglichen Empfehlung) sei vor allem der ganz neue Mechanismus interessant. Hier steht nicht die Entzündungshemmung im Vordergrund, sondern die Förderung des Energiestoffwechsels und die Regeneration. In Frankreich erhielten in einem speziellen Programm bereits mehrere tausend MS-Patienten das Medikament. Eine Therapie auf eigene Faust empfiehlt Buttmann nicht, im Gegenteil warnt er: "Wenn man pharmazeutisch unreine Drogerieware oder Biotin aus dem Tierfutterhandel in großer Menge zu sich nimmt, hat man gute Chancen, sich zu schaden." Neue Ergebnisse zu Biotin aus der laufenden SPI2-Studie erwartet er im nächsten Jahr. Vor 2020 komme Biotin jedoch wahrscheinlich nicht auf den Markt. In einer Reihe von Studien würden zurzeit außerdem weitere Wirkstoffe untersucht, die nicht in erster Linie auf eine Entzündungshemmung abzielen.
#weiterkommen trotz MS - Möglichkeiten von Sport und Bewegung
Eine ganz andere und vor allem völlig nebenwirkungsfreie Form der Therapie stellte Prof. Dr. med. Peter Flachenecker vor: Sport und Bewegung. Draußen vielleicht nicht bei diesen - am Welt MS Tag eher heißen - Temperaturen. Da könnte das natürlich kontraproduktiv sein, vor allem für MS-Erkrankte, die unter dem Uhthoff-Phänomen leiden. Hierbei führt eine erhöhte Temperatur zu einem Pseudoschub, der jedoch wieder weggeht, sobald man abkühlt. Auch müsse man nicht den Mount Everest erklimmen wie seinerzeit Lori Schneider, die dort die Welt MS Tag-Flagge hisste.
Jeder in seinem Rahmen, in seinem Maß und natürlich angepasst an eventuell bestehende Behinderungen. Mit Fatigue sollte man nicht gerade extensiv bergwandern, wer unter Gleichgewichtsstörungen leide, sollte vom Joggen absehen. Aber (Drei-) Radfahren, Ergometer, Klettern, Wii-Konsole und so weiter können eine Alternative sein, am besten in Absprache mit dem Physiotherapeuten. Rollstuhltanz und Rollstuhlbasketball sind auch im Rollstuhl möglich. Und Physiotherapie zählt dazu.
Ganz wichtig oberndrein: Es muss Spaß machen, sonst bleibt man nicht am Ball. So hilft das Ergometergerät unten im Keller, "wo es als Kleiderständer dient", scherzt Flachenecker, oft wenig. Besser, man stellt es vor dem Fernseher auf. Und Hilfsmittel wie Kühlwesten ermöglichen Bewegung trotz Uhthoff und Fatigue.
Dass Sport Herz und Kreislauf stärkt und vorbeugend bei Demenz wirkt, ist bekannt. Allerdings würden MS-Patienten noch mehr als die Allgemeinbevölkerung von Sport profitieren, wie Studien gezeigt haben. Zum Beispiel wirke sich Sport und Bewegung positiv aus auf:
- Depressionen
- Paresen
- Mobilitätseinschränkungen
- Gleichgewichtsstörungen
- Fatigue
Sport wirkt sich im Ganzen gut auf Multiple Sklerose aus und löst keine Schübe aus, wie Studien zeigten. Das Publikum lauschte den Referenten im Haus der Katholischen Kirche gebannt und nutzte auch die Möglichkeiten, hinterher persönlich mit den Experten zu sprechen.
- Zum Bericht über den Welt MS Tag in den Königspassagen
- Veranstaltungen im Rahmen des Welt MS Tages 2018
- Zu allen Berichten zum Welt MS Tag 2018
AMSEL e.V. bedankt sich bei der DAK für die freundliche Unterstützung zum Welt MS Tag 2018.
Redaktion: AMSEL e.V., 04.06.2018