Heute ist Welt Multiple Sklerose Tag!

Rund 300 Gäste begehen derzeit in der Stuttgarter Stadtmitte gemeinsam den Welt MS Tag. Hauptattraktion vor Ort: das Virtuelle Gehirn, ein Infotainment mit Wow-Effekt.

"Heute wird rund um den Globus Welt MS Tag gefeiert in rund 70 Nationen.“ - Mit diesen Worten begrüßte Professor Horst Wiethölter am frühen Abend das interessierte Publikum im Hospitalhof Stuttgart. Er freue sich, so der Vorstandsvorsitzende der AMSEL, "dass wir erneut Teil dieser Welt MS Tag-Bewegung sind."

Zu viele Vorurteile kursieren über die Multiple Sklerose. Dass sie zwangsläufig in den Rollstuhl führe zum Beispiel oder dass MS für Muskelschwund stehe. Der Welt MS Tag solle helfen, der Öffentlichkeit ein realistisches Bild über MS zu vermitteln.

Die AMSEL hat eine neue digitale Anwendung gefunden, mit der die Aufklärung über MS vorangetrieben werden kann: das Virtuelle Gehirn. Prof. Peter Flachenecker, Vorsitzender des Ärztlichen Beirates von AMSEL e.V. bewies vor wenigen Stunden live vor Publikum, dass das Virtuelle Gehirn ein geeignetes Mittel ist, um möglichst anschaulich die Anatomie des Gehirns, MS-Symptome und die Entstehung der MS zu erklären.

Infotainment mit Wow-Effekt

Da durfte man staunen im Hospitalhof. Wer erwartet hatte, dass er bequem zurückgelehnt ein paar Bilder von irgendeinem Gehirn sehen würde, musste feststellen: Das Gehirn schaut zurück! Dieses Gehirn hat Augen, und das nicht umsonst, wie Prof. Flachenecker erklärt. Schließlich ist das Sehen bei vielen MS-Betroffenen eingeschränkt, das wiederum hängt zusammen mit dem Sehnerv und der wiederum ist Teil des Gehirns.

Flachenecker, Chefarzt am neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof in Bad Wildbad, dreht und wendet das 3D-Gehirn. Aber nicht nur das: Er zerlegt es auch und kommentiert amüsiert „Zack-Boom! Ist die Hälfte des Gehirns weg!" Nicht ohne Anlass feilich, denn auch im Inneren des Gehirns gibt es viel zu betrachten.

Vom Allgemeinen zum Besonderen

Der Neurologe erklärt, was das Gehirn eigentlich darstellt. Keineswegs ist es nur ein Steuerorgan, nein, es ist auch ein Integrationsorgan und ein Filterorgan. Schließlich sorgt es dafür, dass wir zum Beispiel einem Gespräch folgen können, während viele andere Hörreize nebenher auf uns einwirken.

Ins Publikum hinein fragt er: „Wie viele Nervenzellen hat ein Gehirn?" Nach einigen Vorschlägen in Millionenhöhe lüftet er das Geheimnis: 100 Milliarden Nervenzellen sind es, die jeder von uns bald 8 Milliarden Menschen in sich trägt. Wer möge, dürfe gern die Summe aller Gehirnzellen berechnen...

Professor Flachenecker erklärt den Aufbau grob: das Großhirn und die Lappen. Inwiefern uns das Frontalhirn von anderen Lebewesen unterscheidet. Wo das Sprachzentrum sitzt (meist links, außer bei „richtigen“ Linkshändern: da sitzt es rechts), das musikalische Zentrum (eher rechts) etc.

Der Neurologe widmet sich der Blase und damit einem Körperteil, das bei Multipler Sklerose häufig zu Symptomen führt. Neben dem frontalen Blasenzentrum im Stirnlappen gibt es ein weiteres im Stammhirn sowie eines im Rückenmark. Wasser zu lassen erscheint uns alltäglich und simpel – bis es einmal nicht mehr klappt. Flachenecker kann das erklären: Es ist nämlich ein komplexer Prozess, der unter anderem veranlasst, dass gleichzeitig ein Muskel locker lässt, während ein anderer sich schließt.

Gefräßige Makrophagen

Außerdem sehr wichtig, jedoch hier im Rahmen des 9. Welt MS Tages nur ein weiteres Mosaiksteinchen aus einem ganz kleinen Ausschnitt des Virtuellen Gehirns: die Blut-Hirn-Schranke. Eigentlich ist das Hirn als Kommandozentrale isoliert von Bakterien und anderen Widersachern, die im Rest vom Körper durchaus anzutreffen sind. Viel mehr als Glukose und Flüssigkeit kommt nicht durch die sogenannte Blut-Hirn-Schranke hindurch, eine Art Filter in Schlauchform, der verhindert, dass zum Beispiel Keime eindringen. Bei Multipler Sklerose ist die Blut-Hirn-Schranke jedoch undicht.

Eine Immunzelle schafft es, ins Gehirn einzudringen, dort schüttet sie Botenstoffe aus, Antikörper und weitere Immunzellen kommen hinzu. Unter anderem sind hier Makrophagen am Zug, das sind Zellen die sich aufs Fressen spezialisiert haben. Fälschlicherweise fressen die Makrophagen bei MS das Myelin um die Axone herum. Dann liegt das Axon – jede Nervenzelle hat genau ein Axon – frei und eventuell wird auch noch das Axon selbst "angeknabbert". Das führt, je nachdem, welche Region des Gehirns betroffen ist, zu den unterschiedlichen Symptomen einer Multiplen Sklerose.

Spastik, Regeneration, OP trotz MS

Im Anschluss an seinen Kurzvortrag über das Virtuelle Gehirn beantwortet Professor Flachenecker Fragen aus dem Publikum. Wie eine Spastik ablaufe: Das funktioniere über die Pyramidenbahnen, die bis zu 1 Meter lang sind. Wenn hier die Verbindung gestört ist, kommt es zu Spastik. Denn eigentlich werden viele Reize aus dem Rückenmark unterdrückt. Bei MS funktioniert das nicht mehr.

Und was hat es mit der Regeneration des Gehirns auf sich? Professor Flachenecker antwortet, dass das Gehirn plastisch ist. Es verändere sich bei jedem von uns, auch während dieses Vortrags. Synapsen würden gebildet. Es herrsche das Dogma, eine kaputte Nervenzelle könne sich nicht erneuern, aber: Es können andere Nervenzellen die Funktionen übernehmen und es können neue gebildet werden. Bei manchen Tieren, so haben Studien ergeben, regenerieren sich Nervenzellen tatsächlich, beim Menschen vermutlich nicht.

Eine weitere Frage betrifft die Operation des Harnwegs trotz Multipler Sklerose. Professor Flachenecker beruhigt: Das generelle Risiko einer OP erhöhe sich mit Multipler Sklerose nicht. Wenn tatsächlich eine zu enge Harnröhre vorliegt, dann kann man das operieren lassen. Die MS-bedingten Blasensstörungen ließen sich damit jedoch nicht beseitigen.

Virtuelles Gehirn? Am liebsten mitnehmen!

Das Credo unter den Zuschauern – das sind Betroffene wie Angehörige, Schulklassen angehender Physiotherapeuten, Mitarbeiter anderer Organisationen etc. – steht fest: Das virtuelle Gehirn ist eine feine Sache. Es hilft, die Funktionen des Gehirns, aber auch die Multiple Sklerose anschaulich, ja plastisch zu erklären.

Eine Frage stellt sich vielen der Gäste im Hospitalhof: Kann man das Virtuelle Gehirn irgendwo herunterladen oder sogar mitnehmen? Das muss Professor Flachenecker leider verneinen. Vor allen Dingen sind es die Erläuterungen des MS-Experten, in seinem Fall eines Neurologen, die das Gehirn erklären. Das Virtuelle Gehirn ist vielmehr Hilfsmittel für einen Referenten als Anwendung für Laien. Die vielleicht einfachste Erklärung: Das Virtuelle Gehirn bedarf der Erklärung. Prof. Peter Flachenecker erklärte gekonnt: mit viel Fachwissen und doch unterhaltsam.

Was heute schon feststeht: Das Virtuelle Gehirn wird viel zum Einsatz kommen, und zwar noch vor dem nächsten Welt MS Tag. Übrigens ist der dann am 30. Mai 2018, wie immer: am letzten Mittwoch im Mai.

Quelle: AMSEL e.V. dankt der DAK für die Unterstützung des Welt MS Tages.

Redaktion: AMSEL e.V., 31.05.2017