Welt MS Tag: Rund ums Gehirn

Aufklären, aufklären und nochmal aufklären - so könnte man das Geschehen rund um das begehbare Gehirn zusammenfassen. Zahllose Passanten wissen jetzt mehr über Multiple Sklerose. Das AMSEL-Team und Ehrenamtliche waren vor Ort am Stuttgarter Hauptbahnhof.

Der letzte Mittwoch im Mai hat seit 7 Jahren einen Namen: Welt MS Tag. Rund um den Globus informieren Verbände, Firmen und Privatleute über Multiple Sklerose. Damit das Wissen mehr wird und die Vorurteile unter den Leuten schwinden. Und damit den Menschen bekannt wird, was schwarze Löcher medizinisch betrachtet sind, was sie aber vor allem - im übertragenen Sinn - für den Alltag der MS-Erkrankten bedeuten.

AMSEL e.V. präsentiert anlässlich des Welt MS Tages ein begehbares Gehirn inmitten der Bahnhofshalle am Stuttgarter Hauptbahnhof inklusive Führungen und anschließendem Dialog mit Experten. Das hat mittlerweile Tradition und kommt gut an - bei Passanten ebenso wie bei Angehörigen und den Medien, nicht zuletzt auch bei den Betroffenen selbst.

Manchmal entstehen schwarze Löcher anstatt Narbengewebe

Auf, ab, auf, ab. Ein Mann mittleren Alters steht hinter seinem Rollator vis-� -vis von Prof. Horst Wiethölter. Was gleich auffällt, sind seine unruhigen Füße, die er abwechselnd auf und ab bewegt. Gebannt lauscht er dem Vortrag des ehemaligen Bürgerhospital-Direktors. Von allgemeinen Erkrankungen des Gehirns berichtet der Neurologe, Schlaganfall, Aneurysma etc., aber auch von der Multiplen Sklerose, ihren vielen völlig unterschiedlichen Symptomen, dem an sich spannenden Geschehen an der Blut-Hirn-Schranke.

Bei MS-Erkrankten erfüllt diese Schranke ihre Funktion nicht korrekt. Sie lässt bestimmte Abwehrkörper des Immunsystems ins Innere des Gehirns anstatt sie abzublocken. Das führt zu Entzündungen, teilweiser Regeneration, schließlich Vernarbungen von Nervengewebe ("Sklerosen", also Verhärtungen) und manchmal auch zu den sog. "Black Holes": nervenwassergefüllten und auf dem Kernspin daher schwarz dargestellten Löchern. Das passiert bei besonders großen Läsionen, wenn das kaputte Gewebe abtransportiert wird anstatt zu vernarben.

Diagnose mit Hindernissen

 

 

Unruhige Beine - so kann sich Spastik bei Multipler Sklerose äußern.

Der Mann mit den unruhigen Beinen stellt sich als Frank vor, Frank, 46, aus Ludwigsburg. Dass er seine Beine im Stehen meist bewegt, liegt an seiner Spastik, am Kribbeln und den Missempfindungen in den Beinen. Er ist gekommen, um sich zu informieren.

Vor 10 Jahren bekam er die Diagnose, doch die ersten Symptome liegen vielleicht schon 30 Jahre zurück. Gleichgewichtsstörungen plagen ihn jedenfalls seit damals, führten zu diversen Bänderrissen und OPs. Ein schwerer Schub mit weiteren Symptomen führte dann 20 Jahre später innerhalb weniger Wochen zur Diagnose MS. Im Durchschnitt dauert die endgültige Diagnose auch heute noch ca. 3 Jahre.

MS reißt manchmal schwarze Löcher ins Hirngewebe; fast immer reißt die entzündliche Nervenerkrankung Löcher in den Alltag der Betroffenen. Franks schwarze Löcher sind, dass er nicht mehr Auto, Ski und Motorrad fahren kann, weder Fußball spielen noch wandern. Die mangelnde Balance hindert ihn auch an vielen Kleinigkeiten im Alltag: Beim Wohnungsputzen kann er nicht mehr auf einen Hocker stehen, ganz zu schweigen davon, selbst die Birne einer Deckenleuchte auszutauschen.

Sein größtes schwarzes Loch ist allerdings, seit 3 Jahren nicht mehr arbeiten zu können. "Einen Hals" bekommt der ehemalige Filialleiter, wenn ihn andere um seine viele Freizeit beneiden und darüber klagen, selbst arbeiten gehen zu müssen. Er wäre lieber im Job.

Den Tag sinnvoll füllen

Um halb 6 Uhr wacht er jeden Tag auf - von der Arbeit her ist er's so gewohnt. Und dann heißt es: den Tag füllen. Also Fernseher an, Musikkanal gewählt. Danach den Computer angemacht, Frühstücken, ein paar Übungen gemacht und sobald die Zeit human ist, seine Mutter und Bekannte, die grade Urlaub haben, anrufen: Vielleicht ist ja ein Treffen drin.

Dann nach Veranstaltungen schauen, besonders gern tanzt Frank, natürlich mit Rollator. Zum Glück hat er da keine Hemmungen und jetzt sind ja laufend irgendwo Feste mit Musik. Aber: Die Tage sind recht gleichförmig.

Frank versucht, seine schwarzen Löcher zu überbrücken, sie zu stopfen. Genießt es, ohne Hektik die Königstraße entlangzugehen. Hat Zeit, seine Wohnung zu putzen (ausgenommen die Dinge weiter oben). Bringt sich in die Hausgemeinschaft ein, organisiert Grillfeste, bewirbt sich aktuell wieder für eine Teilzeitstelle. Dafür sei er jetzt bereit; direkt nach dem letzten Tief waren die Symptome noch zu heftig. Nur längeres Gehen geht eben nicht mehr.

"Ich ziehe mich aus jedem Loch irgendwie immer wieder raus"

 

 

2 Besucher auf dem Welt MS Tag 2015. AMSEL e.V. präsentiert das begehbare Gehirn.

Auch Caroline kennt schwarze Löcher in ihrem Alltag. "Ich wollte einfach irgendwo hingehen am Welt MS Tag", bekennt die junge Frau aus dem Umkreis von Göppingen. Mit 20 Jahren hatte sie ein Kribbeln an der rechten Hand, dazu ein Gefühl "wie Watte zwischen den Fingern und ein rechtes Bein, das ich nachzog." Die Diagnose MS kam dann recht schnell: MRT und Lumbalpunktion vielen positiv aus. Doch durch Kortison ging alles wieder weg. 14 Jahre lang ließ die MS die heute 39-Jährige in Frieden. Dann kam es doppelt heftig.

Ein Riesenschub. Caroline war von der Brust abwärts gelähmt, verbrachte, 2 Wochen im Pflegebett, insgesamt 2 Monate im Krankenhaus. Die Kortisontherapie schlug diesmal nicht an, doch eine Blutwäsche brachte schließlich zumindest teilweisen Erfolg: Während dieser Ein-Wochen-Prozedur konnte sie "förmlich beobachten, wie meine Sehkraft und das Gefühl in meinen Beinen wieder zurückkehrten." Danach folgte eine Reha im Quellenhof in Bad Wildbad. Sie behielt ihren Drehschwindel, Augenprobleme, Fatigue und Blasenstörungen. Einen Stock hat sie immer mit dabei.

Ein paar Monate später sollte es noch heftiger kommen: Eierstockkrebs, erste Teil-OP, dann Total-OP. Das war erst im März; alle 2 Wochen muss sie zunächst zur Untersuchung. Vielleicht hatte die Tumorerkrankung auch den aggressiven Schub ausgelöst.

Die schwarzen Löcher wieder füllen

Den Kopf in den Sand stecken ? Nicht bei Caroline: "Gerade jetzt brauche ich Informationen über Multiple Sklerose. Das hilft mir", erklärt die Mutter eines 15-jährigen Sohnes. Sie hatte die MS nahezu anderthalb Jahrzehnte lang fast völlig verdrängt; schließlich machte sie ihr keine Probleme. So sehr, dass sie nicht mal ihren Sohn aufgeklärt hatte. Jetzt ist das anders. Und sie sucht Kontakt zu Gleichgesinnten, möchte vermitteln, dass man auch bei einem solch aggressiven Schub die Hoffnung nicht aufgeben sollte. "Ich bin so ein Mensch, ich ziehe mich aus jedem Loch irgendwie immer wieder raus." Das passt zu Franks Wahlspruch "Never stop fighting - never surrender". MS reißt schwarze Löcher in den Alltag, doch man kann diese Löcher füllen, sie überbrücken, sich aus ihnen hinausstemmen.

Momentan findet im Sparkassenverband der "Dialog mit den Experten" statt. Prof. Horst Wiethölter und Prof. Peter Flachenecker vom Ärztlichen Beirat der AMSEL beleuchten die Multiple Sklerose dort in ihren Vorträgen für alle Interessierten. AMSEL.DE berichtet in den kommenden Tagen über den weiteren Verlauf des Welt MS Tages.

 

AMSEL dankt der DAK Gesundheit, die im Rahmen der Projektförderung die Durchführung der Welt MS Tags Aktivitäten gefördert hat.

Redaktion: AMSEL e.V., 27.05.2015