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Zugang zu Behindertenparkplätzen mit MS künftig leichter?

Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass der Eintrag für außergewöhnliche Gehbehinderung (aG) von den realen Bedingungen im öffentlichen Verkehrsraum abhängen soll und nicht wie bisher von der Gehfähigkeit unter idealen Bedingungen. Zwei Männer mit anderen Erkrankungen als MS hatten geklagt. Das könnte auch für mehr Menschen mit Multipler Sklerose künftig Erleichterungen bringen.

Zwei aktuelle Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom März 2023 könnten auch für MS-Betroffene im Einzelfall den Zugang zum Merkzeichen aG (und damit den Zugang zu Behindertenparkplätzen) erleichtern: MS-Betroffene können nicht mehr so leicht darauf verwiesen werden, dass sie unter optimalen Bedingungen, also etwa stufenfreiem Zugang, ebenem Gelände, glatten Böden etc. oder in vertrauter Umgebung noch weite Strecken bewältigen können. Die "erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung" muss jedoch einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entsprechen.

Gehunfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich für die Nutzung von Behindertenparkplätzen, und nicht "ideale" Bedingungen.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 9. März 2023 entschieden, dass für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (für "außergewöhnliche Gehbehinderung") und damit die Nutzung von Behindertenparkplätzen die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich ist. Und die unterscheidet sich oft stark von einer vertrauten Umgebung wie den eigenen vier Wänden oder schlicht der Realität auf Deutschlands Straßen, Parkplätzen und Gehwegen.

Kann der schwerbehinderte Mensch sich dort, also im öffentlichen Verkehrsraum, dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen, steht ihm das Merkzeichen aG zu (wenn auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind). Eine bessere Gehfähigkeit in anderen Lebenslagen, etwa unter idealen räumlichen Bedingungen oder allein in vertrauter Umgebung und Situation ist für dessen Zuerkennung grundsätzlich ohne Bedeutung. Eine bessere Gehfähigkeit unter idealen Bedingungen ist also kein Grund für die Ablehnung des Merkzeichens, wenn alle anderen Bedingungen erfüllt sind.

Fast schon typisch: zuhause frei gehen, draußen nur mit Gehhilfe

Tatsächlich berichten viele durch die MS gehbehinderte Menschen, dass sie für die kurzen Strecken zuhause oft keinen Rolli brauchen. Sie hangeln sich von Handlauf zu Anrichte, stützen sich ab und kennen jeden einzelnen Schritt in ihrer Wohnung. Geht die Kraft aus, ist die nächste Sitzgelegenheit nicht weit. Draußen jedoch, etwa nach dem Parken in der Stadt, erwartet sie immer wieder neues Terrain, je nachdem, wo sie parken. Eine zu enge Parklücke, eine stark befahrene Straße, ein zugeparkter Gehweg, ein zu steiler Anstieg, Kopfsteinpflaster etc. genügen, und sie kommen mit dem Rolli nicht weiter oder gar nicht erst aus dem Auto heraus.

Zurück zum Bundessozialgericht:

Im ersten Fall klagte ein Mann mit fortschreitendem Muskelschwund mit Verlust von Gang- und Standstabilität. Auf einem Krankenhausflur kann er noch gehen. Anders im öffentlichen Verkehrsraum mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten: Eine "freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr" besteht hier nicht mehr (Aktenzeichen B 9 SB 1/22 R).

Eine erhebliche Teilhabebeeinträchtigung, und damit die erste Voraussetzung für das Merkzeichen aG, sah das Bundessozialgericht in diesem Fall als erfüllt an. Nicht abschließend entscheiden konnte das Bundessozialgericht, ob auch die zweite Voraussetzung erfüllt ist, wonach gerade die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung einem Grad der Behinderung von 80 entsprechen muss. Daher wurde der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Teilhabe bedeutet, auch unbekannte Orte zu besuchen

Der zweite Kläger kann infolge einer globalen Entwicklungsstörung nur in vertrauten Situationen im schulischen oder häuslichen Bereich frei gehen, nicht jedoch in unbekannter Umgebung. Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass dem Kläger das Merkzeichen aG zusteht.

Der auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft gerichtete Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasst explizit auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Umgekehrt ausgedrückt würde ein Fokus allein auf die bekannte, ideal eingerichtete Umgebung eben keine Teilhabe bedeuten, sondern eine Einschränkung aufs eigene Zuhause/ ein Heim etc. Die Gehfähigkeit ausschließlich in einer vertrauten Umgebung steht der Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht entgegen. Die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung des Klägers entspricht auch einem GdB von 80 (Aktenzeichen B 9 SB 8/21 R).

Die Urteile sind noch nicht veröffentlicht. Damit ist jedoch zu rechnen. Genauso mit einer Übertragung der Urteile auf ähnlich gelagerte Fälle, die auch manchen Menschen mit Multipler Sklerose und einem Grad der Behinderung von 80 (GdB 80) den Zugang zum Kennzeichen aG und somit zu einem Behindertenparkausweis erleichtern könnten.

Quelle: Pressemitteilung des Bundessozialgerichts, 10.03.2023

Redaktion: AMSEL e.V., 24.03.2023