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MS-Betroffene siegt vor Gericht im Streit um Treppensteighilfe

Eine 71-jährige, gehbehinderte Frau mit Multipler Sklerose hat vor Gericht erfolgreich geklagt. Die Krankenkasse muss die Kosten für eine Treppensteighilfe übernehmen.

Einen langen Atem benötigte die an MS erkrankte Ludwigsburgerin im Kampf um eine Treppensteighilfe (Scalamobil). Die Krankenkasse lehnte zunächst eine Kostenübernahme ab. Auch Widerspruch und Klage vor dem Sozialgericht in Heilbronn blieben erfolglos. Die Frau ließ sich dadurch aber nicht entmutigen und legte Berufung beim Landessozialgericht in Stuttgart ein. Mit Erfolg. Das Gericht entschied, dass die Kasse die Kosten für den Treppensteiger übernehmen muss. (AZ: L 5 KR 4341/12)

Das Urteil ist umso erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass das Bundessozialgericht im Jahr 2010 entschieden hat, dass die Krankenkassen nicht zur Kostübernahme von Treppensteighilfen verpflichtet sind. (AZ: B 3 KR 13/09 R) AMSEL.DE hatte seinerzeit über das Urteil berichtet und die Entscheidung der Richter als weltfremd und nicht praxisgerecht kritisiert.

Bundessozialgericht entschied 2010 anders

Offensichtlich haben auch Juristen Probleme mit dieser Entscheidung des BSG. Schon der Richter des Sozialgerichtes Heilbronn äußerte bei seiner ablehnenden Entscheidung, dass er Bauchschmerzen habe, angesichts dieser harten Rechtsprechung. Er fühlte sich aber wohl an die Rechtsprechung des BSG gebunden und lehnte die Klage ab, auch wenn ihm dies offensichtlich schwerfiel und er Verständnis für die Situation und das Anliegen der MS-betroffenen Klägerin zeigte.

Die Frau hatte vor Gericht eindrücklich ihre Situation geschildert. Sie lebt zusammen mit Ihrem Mann seit über 40 Jahren in einer Eigentumswohnung im Hochparterre eines Mehrfamilienhauses. Die Wohnung selbst ist barrierefrei. Um Ihre Wohnung zu verlassen muss sie vor dem Haus und im Hausflur insgesamt 9 Stufen überwinden.

Da die Frau auf einen Rollstuhl angewiesen ist und die Treppe nicht gehend bewältigen kann benötigt sie eine Treppensteighilfe, mit der ihr Mann sie zusammen mit dem Rollstuhl die Treppen rauf und runter befördern kann. Die Frau berichtete, dass sie die Treppensteighilfe zudem für Arztbesuche, zum Aufsuchen von Geschäften und beim Besuch der Selbsthilfegruppe benötigt. Ohne dieses Hilfsmittel könne sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen und sei von der Umwelt und dem gesellschaftlichen Leben abgeschnitten. Auch könne sie ihr Therapiedreirad nicht mehr nutzen, mit dem sie bei gutem Wetter zur Förderung der Gesundheit fahre.

Mit Treppensteiger am gesellschaftlichen Leben teilhaben

Die Richter beim LSG hatten ein Einsehen und verpflichteten die Krankenkasse zur Bezahlung eines von der Klägerin gebraucht angeschafften Scalamobils. Die Richter betonten bei Ihrer Entscheidung, dass sie den Maßstäben, die das Bundessozialgericht bei seiner Entscheidung angelegt hat zwar grundsätzlich zustimmen, führen aber aus, dass der Sachverhalt im vorliegenden Fall ein anderer sei als der, bei dem es im BSG-Urteil ging.

Im BSG-Urteil lag der Sachverhalt so, dass der Treppensteiger benötigt wurde, um sich innerhalb der eigenen Wohnräume, die sich über 2 Etagen erstreckten, zu bewegen. Im aktuellen Fall ging es aber um das Verlassen und Aufsuchen der Wohnung. Die Richter sahen darin einen entscheidungserheblichen Unterschied. Sie führten aus, dass es zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehöre den Nahbereich der eigenen Wohnung zu erschließen und sei es nur, um an der frischen Luft zu sein.

Die Richter legten auch dar, dass der Treppensteiger im vorliegenden Fall nicht der Verbesserung des Wohnumfeldes, sondern der Verbesserung des Hilfsmittels Rollstuhl dient. Sie stellten zudem klar, dass es bei Wohnungen - und in den häufig in Süddeutschland anzutreffenden Hanglagen auch bei Einfamilienhäusern – dem allgemeinen Wohnstandard entspricht, dass diese nur über Treppen, bzw. Treppenhäuser zu erreichen sind.

Auch andere können profitieren vom Mut und Durchhaltevermögen der Klägerin

Das Urteil des LSG ist erfreulicherweise nicht geprägt von abstrakt systemischen Rechtsüberlegungen sondern nimmt Bezug auf die reale Lebenswelt von Behinderten und Rollstuhlfahrern, die sich tagtäglich mit Hindernissen und Barrieren auseinandersetzen müssen. Das Urteil hat auch grundlegende Bedeutung und eröffnet Rollstuhlfahrern, die auf eine Treppensteighilfe außerhalb der eigenen Wohnung angewiesen sind nun wieder die Möglichkeit eine Kostenübernahme bei der Krankenkasse zu erreichen.

Das Urteil zeigt auch, dass MS-Betroffene nicht der Willkür von Krankenkassen und anderen Leistungsträgern ausgeliefert sind. Wer sich wehrt, kann durchaus etwas erreichen. Dazu gehört eine große Portion Mut, Zivilcourage und Durchhaltevermögen. All das hat die an Multipler Sklerose Erkrankte aus Ludwigsburg bewiesen und wurde dafür belohnt. Und mit ihr auch andere Betroffene, die von diesem Urteil profitieren können.

Autor: JH
Quelle: Landessozialgericht Stuttgart, AZ: L 5 KR 4341/12

Redaktion: AMSEL e.V., 13.05.2014