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Erwerbsminderungsrente: Korrektur auch rückwirkend beantragen

05.09.06 - Abschlag bei unter 60-Jährigen unzulässig. Betroffene sollten Einspruch einlegen, um ihre künftige Rentenhöhe zu korrigieren und nicht erbrachte Leistungen rückwirkend nachzuverlangen.

Eine vorläufige Bewertung des Sozialverbands VdK mit praktischen Handlungsempfehlungen:

Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 16. Mai 2006 in einem Urteil (Aktenzeichen: B 4 RA 22/05 R) eine Entscheidung über die Zulässigkeit von Abschlägen bei Renten wegen Erwerbsminderung für Rentner, die bei Rentenbeginn jünger als 60 Jahre alt sind, getroffen (amsel.de hat berichtet).

Mit dem im Januar 2001 in Kraft getretenen Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat der Gesetzgeber die damaligen Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit durch eine zweistufige Erwerbsminderungsrente mit deutlich verschärften Zugangsvoraussetzungen ersetzt. Auch wurde die Altersgrenze bei der Altersrente für schwerbehinderte Menschen stufenweise auf das 63. Lebensjahr angehoben. Ferner wurden Rentenabschläge bei der Altersrente für schwerbehinderte Menschen, der neuen Erwerbsminderungsrente sowie einer Hinterbliebenenrenten eingeführt, wenn diese Renten vor Vollendung des 63. Lebensjahren bezogen werden oder der Versicherte vor Vollendung des 63. Lebensjahres stirbt.

Der Sozialverband VdK hatte im Gesetzgebungsverfahren diese Verschlechterungen sehr stark kritisiert. Sowohl die Verschärfung der Leistungsvoraussetzungen als auch die Abschläge treffen chronisch kranke oder behinderte Menschen, die in aller Regel auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wenig Chancen haben, bis zur Erreichung der Altersrente eine Beschäftigung auszuüben.

Lebenslange Auswirkung

Nach der Gesetzesbegründung wollte der Gesetzgeber die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten bei Verlängerung der Zurechnungszeit anpassen, obwohl dieser Personenkreis behinderungsbedingt auf den Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben keinen Einfluss hat. Die Abschläge gelten lebenslang, das heißt auch bei späterer Umwandlung in eine Altersrente und wirken sich auch bei der Hinterbliebenenrente mit aus. Von den Betroffenen werden diese Abschläge als zusätzliche Bestrafung empfunden. Deshalb fordert der Sozialverband VdK weiterhin die Rücknahme dieser Verschlechterungen und sieht sich durch die Entscheidung des Bundessozialgerichts in seiner Argumentation bestärkt.

Streitgegenstand in dem Verfahren einer 1960 geborenen Klägerin war die Frage, ob eine Rentenkürzung von 10,8 Prozent auch bei Versicherten, die Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung haben und bei Rentenbeginn noch nicht 60 Jahre alt sind, rechtmäßig ist.

"Vorzeitige Inanspruchnahme" erst mit 61

Nach der Pressemitteilung des Bundessozialgerichts kommt der 4. Senat zum Ergebnis, dass das Gesetz einen Rentenabschlag bei einem Recht auf Rente wegen Erwerbsminderung für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres ausschließt. Zur Begründung stellt das Gericht zunächst auf den Wortlaut von § 77 Absatz 2 Satz 3 SGB VI ab.

Diese Vorschrift besage ausdrücklich, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer "vorzeitigen Inanspruchnahme" gelte, die gegebenenfalls allein unter Umständen geeignet sein könnte, eine Rentenkürzung zu rechtfertigen. Nach der Gesetzesbegründung sollte die Kürzung dazu dienen, ein spekulativ unterstelltes Ausweichen der Versicherten in die Erwerbsminderungsrente wegen der Rentenabschläge bei vorzeitigen Altersrenten zu verhindern. Ein solches "Ausweichen" komme aber frühestens ab Vollendung des 60. Lebensjahres in Betracht.

Kürzung ab 60 noch offen

Nach der Pressemitteilung hat das BSG nicht geprüft, ob die vom Gesetz vorgesehene Kürzung von Erwerbsminderungsrenten (und Hinterbliebenenrenten) für Bezugszeiten nach Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten verfassungsgemäß ist. Dies sei nicht entscheidungserheblich gewesen, weil die Klägerin 1960 geboren ist.

Ergänzend hat das BSG am 17.7.2006 in seiner Medien-Information Nummer 25/06 als Richtigstellung zu einer Presseverlautbarung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 2.6.2006 erklärt, das BSG habe (.. in seinem Urteil vom 16.5.2006 ...) festgestellt, dass auch Rentner, die bei Rentenbeginn "jünger als 60" sind, den Abschlägen unterliegen, dies aber nach dem Gesetz und dessen Entstehungsgeschichte erst, wenn sie die Erwerbsminderungsrente über das 60. Lebensjahr hinaus beziehen.

Offenbar interpretiert das BSG seine Entscheidung dahingehend, dass auch Rentner, die jünger als 60 sind, den Abschlägen unterliegen, die Abschläge aber erst eintreten, wenn sie mindestens 60 sind.

Einzelfallentscheidung

Anzumerken ist zunächst, dass eine vollständige Abschätzung der Auswirkungen dieser Entscheidung - trotz der Richtigstellung des BSG vom 17.7.2006 - nicht vorgenommen werden kann, bevor die schriftlichen Urteilsgründe vorliegen. Dies kann nach unseren Erfahrungen noch 3 Monate und länger dauern.

Unabhängig davon handelt es sich bei dem Urteil des Bundessozialgerichts um eine Einzelfallentscheidung, die anders als Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen unmittelbare Bindungswirkung nur für die am konkreten Verfahren Beteiligten hat. In der Vergangenheit war festzustellen, dass für Versicherte positive Urteile des Bundessozialgerichts von den Sozialleistungsträgern zögerlich oder gar nicht in der Verwaltungspraxis umgesetzt wurden bzw. durch Eingreifen des Gesetzgebers wieder zu Lasten der Versicherten korrigiert wurden.

Handlungsempfehlungen des Sozialverband VdK

  • Versicherte, denen eine Erwerbsminderungsrente mit Abschlägen bewilligt wurde oder bewilligt wird und die bei Rentenbeginn noch keine 60. Jahre alt sind, sollten innerhalb der Widerspruchsfrist von einem Monat ab Zugang des Bescheides unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG bei ihrem Rentenversicherungsträger Widerspruch einlegen. Dies gilt entsprechend für noch nicht bestandskräftige Bescheide über Hinterbliebenenrenten mit Abschlägen, wenn der Versicherte vor Vollendung des 60. Lebensjahres Erwerbsminderunsrente bezogen hat oder auch ohne vorherigen Bezug einer solchen Rente gestorben ist. Ein Muster für einen Widerspruch finden Sie unten.
  • Bei schon bestandskräftigen Rentenbescheiden haben Personen, denen nach dem 31.12.2000 eine Erwerbsminderungsrente mit Abschlägen bewilligt wurde und die bei Beginn der Erwerbsminderungsrente noch nicht 60 Jahre alt waren, die Möglichkeit unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts bei ihrem Rentenversicherungsträger eine Überprüfung dieses Bescheides zu verlangen. Betroffen sind insbesondere auch Personen, die nur eine befristete Erwerbsminderungsrente bezogen haben oder zwischenzeitlich wegen der vorangegangen Erwerbsminderungsrente nur eine ebenfalls gekürzte Altersrente beziehen.
  • Einen solchen Antrag sollten ebenfalls Bezieher von Hinterbliebenenrenten stellen, wenn der Versicherte vor Vollendung des 60. Lebensjahres Erwerbsminderunsrente bezogen hat oder auch ohne vorherigen Bezug einer solchen Rente gestorben ist. Neben einer Korrektur für die Zukunft können für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren rückwirkend nicht erbrachte Rentenleistungen nachverlangt werden. Für einen solchen Antrag reicht es aus, wenn er noch bis Dezember 2006 gestellt wird. Es könnten sich daraus Nachforderungen bis Januar 2002 ergeben.

    Quelle: Sozialverband VdK

 

 
 
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Redaktion: AMSEL e.V., 14.09.2006