Hintergrund und Verfahren
In zwei Fällen beantragten Versicherte bei ihrer Krankenkasse ein Handkurbelrollstuhlzuggerät (Handbikes) mit Elektromotorunterstützung, in einem anderen Fall wurde ein Therapiedreirad mit Elektromotorunterstützung beantragt. Die Krankenkassen lehnten diese Fortbewegungsmittel teilweise mit der Begründung ab, dass diese Hilfsmittel nicht notwendig oder nicht angemessen seien, etwa wegen der höheren Geschwindigkeiten oder der möglichen Reichweite. Gegen diese Entscheidungen klagten die Versicherten, zuletzt erfolgreich vor dem Bundessozialgericht (BSG).
Das BSG prüfte zunächst, ob die begehrten Hilfsmittel vorrangig therapeutischen Zwecken dienen. In den vorliegenden Fällen konnte kein enger Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer festgestellt werden. Die begehrten Hilfsmittel wurden damit dem Behinderungsausgleich (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V) zugeordnet.
Wesentliche Aspekte der neuen Rechtsprechung
Kein Versorgungsausschluss wegen Reichweite und Geschwindigkeit der Hilfsmittel
Die Zuständigkeit der Krankenkasse für Mobilitätshilfen erstreckt sich auf Hilfsmittel, die Versicherten die Möglichkeit sichert, den Nahbereich der Wohnung zumutbar zu erschließen. Nach bisheriger Rechtsprechung galt, dass die Krankenkassen grundsätzlich nur eine Mobilität zu ermöglichen hätten, die sich an der Schrittgeschwindigkeit von nicht mobilitätsbeeinträchtigten Menschen (6 km/h) orientierte.
Der Senat entschied nun, dass allein die zu erreichende Geschwindigkeit eines Hilfsmittels der Versorgung nicht entgegenstehen dürfe, sofern der Nahbereich der Wohnung nicht anders zumutbar erschlossen werden kann. Diese Argumente werden oft von Krankenkassen als Ablehnungsgrund genannt. Doch das Gericht machte deutlich, dass die technische Reichweite allein nicht darüber entscheidet, ob die Hilfsmittel notwendig seien. Die mögliche Höchstgeschwindigkeit von bis zu 25 km/h oder die mögliche Reichweite der Geräte kann daher allein kein Ausschlussgrund darstellen. Die Krankenkassen müssen zukünftig unter Berücksichtigung der neuen Grundsätze den Einzelfall genau prüfen und berechtigte Wünsche des Versicherten berücksichtigen.
Neue Bestimmung des Nahbereichs der Wohnung
Der Senat hat in seinen Urteilen weiterhin festgestellt, dass sich die Angebotsstrukturen für die üblichen Alltagsverrichtungen der täglichen Versorgung erheblich verändert haben. Zugleich sei auch der Anteil üblicherweise zu Fuß zurückgelegter Wegstrecken deutlich zurückgegangen. Versorgungsmaßstab nach neuer Rechtsprechung sind die erforderlichen Wege zu den wesentlichen Stellen der allgemeinen Versorgung (wie Wege zum Einkauf, zur Post und Bank) sowie zur Gesunderhaltung (wie Wege zum Aufsuchen von Ärzten, Therapeuten, Apotheken etc.). Ob dafür motorunterstützende Hilfen notwendig sind, hänge von den örtlichen Gegebenheiten ab, etwa von der Entfernung der Geschäfte, aber auch von einer eventuellen Unwegsamkeit des Geländes.
Ein Aufschließen zu den Möglichkeiten nicht mobilitätsbeeinträchtigter Versicherter wäre für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen nach der bisherigen Definition des Nahbereichs nicht unbedingt gewährleistet. Außerdem habe sich das Bewegungsverhalten in der Bevölkerung vielfach auf Felder verlagert, die nicht mehr nur der Erledigung von Alltagsgeschäften zugeordnet werden könne. Bereits in der bisherigen Rechtsprechung mussten bei der Hilfsmittelversorgung zusätzlich auch Wege berücksichtigt werden, die zur Aufrechterhaltung der körperlichen Vitalfunktionen dienten, da sie von besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit sind. Der Senat stärkte in seiner Rechtsprechung nun auch diesen Aspekt der Versorgung.
Anspruch auf aktive Erschließung des Nahbereichs der Wohnung
Der Senat entschied, dass Versicherten, wenn sie dies wünschen, eine aktive Erschließung des Nahbereichs (unter Einsatz der eigenen Körperkraft) ermöglicht werden muss. Das BSG hob hervor, dass die aktive Nutzung eigener Muskelkraft ein wichtiges Kriterium ist, um die soziale Teilhabe und Selbstbestimmung zu fördern. Dabei sind die örtlichen Gegebenheiten der erforderlichen Wege zu den wesentlichen Stellen der allgemeinen Versorgung und der Gesunderhaltung zu berücksichtigen, auch wenn diese über die von nicht mobilitätsbeeinträchtigten Menschen üblicherweise zurückgelegten Entfernungen hinausreichen.
Die Entscheidung des Senats ermöglicht damit betroffenen Versicherten eine Teilhabe an Bewegungsmöglichkeiten vieler nicht mobilitätsbeeinträchtigter Personen und stärkt die Möglichkeiten, sich aktiv im Interesse der eigenen physischen und psychischen Gesundheit im neu definierten Nahbereich zu bewegen.
Offen bleibt in der aktuellen Rechtsprechung, ob die neuen Grundsätze auch für rein motorgetriebene Mobilitätshilfen (Elektrorollstühle) gilt.
Können Krankenkassen eine Eigenbeteiligung an den Kosten fordern?
Der Senat wies darauf hin, dass es an einer entsprechenden Rechtsgrundlage fehle und die Entscheidung dem Gesetzgeber vorbehalten sei. Sollten Krankenkassen eine Eigenbeteiligung verlangen, können MS-Betroffene darauf hinweisen und eine Eigenbeteiligung ablehnen.
Relevanz für Menschen mit MS
Die Urteile des Bundessozialgerichts vom April 2024 markieren einen bedeutenden Fortschritt in der Versorgung mit motorunterstützten Mobilitätshilfen. Sie stärken den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf eine selbstbestimmte und aktive Mobilität und unterstreichen die Bedeutung einer realitätsnahen und individuellen Prüfung durch die Kostenträger.
Quelle: together 3.25
Redaktion: AMSEL e.V., 27.10.2025
