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Wo die Läsionen sitzen

Kann man vom Ort einer Läsion auf die Art der Behinderung schließen? - Professor Mathias Mäurer erklärt in seinem Blog, in welchen Fällen das geht und warum eine direkte Zuordnung aber meist nicht funktioniert.

Bestimmte Regionen im Gehirn sind für bestimmte Funktionen zuständig, das meint man, irgendwann einmal gehört zu haben. Im Prinzip trifft das auch zu. Dass zum Beispiel bei den meisten von uns die linke Gehirnhälfte auf die Sprache spezialisiert ist. Der Umkehrschluss, dass Läsionen in einem bestimmten Gehirnareal ganz bestimmte Funktionsausfälle nach sich ziehen, stimmt jedoch meist nicht. Warum das so ist, erklärt Professor Mäurer in seinem Blog:

"Schuld" daran ist die Plastizität des Gehirns. Das ist eine sehr gute Einrichtung, denn das gesamte Gehirn ist ein sehr komplexes Netzwerk. An einer Handlung sind oft mehrere Areale beteiligt. Fallen an einer Stelle die zuständigen Zellen aus, dann übernehmen andere ihre Funktion. Bei Kindern ist die Plastizität sehr groß. Und sie hält, wenngleich in geringerem Maße, bis ins hohe Alter an. Das Gehirn kann sich also – bis zu einem gewissen Grad – selbst "heilen" oder vielleicht besser: Umleitungen bauen.

Diese Umleitungen kosten das Gehirn jedoch mehr Kraft. Das kann man leicht nachvollziehen: Wenn man wegen einer Dauerbaustelle mit dem Auto ständig einen Umweg fahren muss, verbraucht man nicht nur mehr Sprit, sondern hat in dieser Zeit als Fahrer auch persönlich weniger Kraft übrig für andere Dinge. Dieser Mehraufwand äußert sich im Gehirn dann zum Beispiel in Fatigue, der abnormen Ermüdbarkeit, wie sie ein Großteil der MS-Patienten erlebt. MS-Patienten können sich dann zum Beispiel weniger lang konzentrieren oder nicht so lange gehen. Sind schneller stark erschöpft. Müssen sich nach dem Kochen erstmal hinlegen, weil ihnen die Kraft zu Essen fehlt.

Funktionsausfälle oft unabhängig vom Ort der Läsion

Eine direkte Zuordnung: Ich habe an Ort A eine Läsion und muss deshalb die und die Ausfälle haben, trifft also meist nicht zu. Das Gehirn findet schnell „Umwege“, um den Nervenzellausfall zu kompensieren.

Nur ungefähr 10 % aller Läsionen, also der weißen Flecken in der weißen Hirnsubstanz, die man auf dem MRT sieht, zeitigen tatsächliche Funktionsausfälle. Umgekehrt heißt das: Die meisten Läsionen bekommen wir bewusst gar nicht mit. Wichtig ist es natürlich dennoch, auch die Anzahl der Läsionen regelmäßig zu messen, weil sich daran ausmachen lässt, wie aktiv eine MS ist und somit, welche Therapie nötig ist, um den Schaden bestmöglich zu begrenzen.

Wo MS-Läsionen „gern“ auftreten

MS-Läsionen können überall im Gehirn auftreten, bevorzugt trifft es die weiße Substanz und dort die Gegend um die Ventrikeln herum. Das hilft zum Beispiel auch bei der Neudiagnose einer MS.

Während im Gehirn meist keine Zuordnung von Läsionsort und daraus resultierendem Funktionsausfall möglich ist, kann man das bei Läsionen im Rückenmark meist recht genau sagen. Hier ist der Platz zu eng, um größere Läsionen zu kompensieren. Da einzelne Rückenmarksabschnitte für bestimmte Körperteile, zum Beispiel Arme und Beine, zuständig sind, lässt sich hier der Läsionsort bestimmten Behinderungen recht genau zuordnen.

Rückenmark: Funktionsausfälle oft abhängig vom Ort

Eigentlich ist es oft umgekehrt: Wenn ein Patient mit neu aufgetretenen Gefühlsstörungen oder Taubheit in einem Bein oder auch mit Blasen- oder Darmstörungen zum Neurologen kommt, dann liegt auch ganz ohne MRT die Vermutung nahe, dass hier eine neue Läsion im Rückenmark aufgetreten ist. Das ist auch der Grund, warum das Rückenmark weniger häufig per Kernspin kontrolliert werden muss: Die Behinderungen weisen meist recht eindeutig darauf hin.

Quelle: MS-Docblog, 17.08.2022.

Redaktion: AMSEL e.V., 17.10.2022