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Wann ist ein Schub ein Schub und wie wird er behandelt?

Die MS verläuft meist schubförmig, zumindest in der ersten Phase der Erkrankung. Schübe sind ein Kernmerkmal der MS, doch wodurch entstehen sie, wie können sie erkannt und behandelt werden und womit darf man sie nicht verwechseln? Fundiertes Wissen um die MS kann dabei helfen, besser mit der Erkrankung im Alltag umzugehen. - Prof. Dr. med. Ingo Kleiter klärt auf, wie Schübe bei MS abzugrenzen und zu behandeln sind.

Um Schübe zu verstehen, muss man sich zunächst die immunologischen Grundlagen der MS vergegenwärtigen. Die MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der eine fehlgeleitete und überschießende Immunreaktion gegen Bestandteile des Gehirns und Rückenmarks auftritt. Diese Immunreaktion entsteht außerhalb des zentralen Nervensystems (ZNS), und zwar im Blut und in Organen des lymphatischen Systems. Kommt es zu einer Aktivierung von Immunzellen in diesen Organen, können ZNS Antigen-spezifische Immunzellen über die Blut-Hirn-Schranke treten, werden dort aktiviert und führen schließlich zu Entzündungen im Gehirn und Rückenmark. Diese Entzündungen treten insbesondere um Blutgefäße herum und in der Nähe der Hirn-Hohlorgane, der Ventrikel, auf.

Jede Entzündung ein Schub?

In der Kernspintomographie (MRT) sind die Entzündungen im Gehirn und Rückenmark als akute Herde (Läsionen) zu sehen. Doch nicht jeder neue Herd führt zu Symptomen. Untersuchungen haben gezeigt, dass dies nur bei etwa jedem 10. Herd der Fall ist. Liegt der Herd an einer strategisch wichtigen Position im Gehirn oder Rückenmark, kann es in der Phase der akuten Entzündung zu einem neurologischen Ausfall, dem sogenannten Schub, kommen.

Nach Abklingen der Entzündung bilden sich die Schubsymptome häufig, jedoch nicht immer zurück. Die verbleibenden Symptome eines sich inkomplett zurückbildenden Schubs bezeichnet man als „residuelle“ Ausfälle. Durch wiederholte Schübe kann es durch die fehlende Rückbildung von Schubsymptomen zu einer stufenweisen klinischen Verschlechterung kommen. Abgegrenzt werden muss hiervon eine kontinuierliche klinische Verschlechterung ohne Schübe bei der primär oder sekundär progredienten MS, sowie die erst kürzlich entdeckte schleichende Verschlechterung zwischen zwei Schüben, genannt PIRA (engl. progression independent of relapses activity).

Neben den offensichtlichen Merkmalen der Krankheitsaktivität bei schubförmiger MS (klinische Schübe, neue oder sich vergrößernde MRT-Herde) gibt es leider auch einen „Eisberg von MS-Phänomenen“ mit unsichtbaren degenerativen Veränderungen, wie kortikalen Läsionen, subklinischen („schleichenden“) Entzündungen oder der Abnahme des Gehirnvolumens.

Wie erkennt man einen Schub?

Schübe sind gekennzeichnet durch das plötzliche Auftreten eines neuen oder einer Verschlechterung eines bereits bestehenden Symptoms. Dies geschieht in der Regel innerhalb von Stunden bis Tagen. Zur Definition eines Schubs gehört darüber hinaus, dass die akut aufgetretene neurologische Funktionsstörung oder ein subjektiv berichtetes bzw. durch den Arzt objektiv nachvollziehbares Symptom für mindestens 24 Stunden anhält und ein Zeitintervall von mindestens 30 Tagen zum vorangegangenen Schub besteht.

Typische Symptome sind Sehstörungen, wie Doppelbilder oder Verschwommensehen, Sensibilitätsstörungen, Störungen der Motorik oder Bewegungskoordination sowie Blasenstörungen. Plötzliche und nur kurzzeitig auftretende neue Ereignisse, wie tonische Spasmen, werden nur bei einer Häufung über einen Zeitraum von mehr als 24 Stunden als Schub bezeichnet. Es gibt auch Symptome, die untypisch für die MS sind und nur selten bei einem Schub auftreten. Hierzu gehören Hörstörungen, extrapyramidale Störungen (=Parkinson-Symptome) und periphere neurologische Ausfälle.

Um festzustellen, ob tatsächlich ein akuter Schub vorliegt, sollten Sie umgehend einen Neurologen aufsuchen. Durch die dort durchgeführte klinisch-neurologische Untersuchung lässt sich meist bei bereits bekannter MS ein Schub bestätigen oder ausschließen. Eine zusätzliche kernspintomografische Untersuchung ist nur bei Unsicherheit zwingend notwendig. Dass dennoch bei vielen Schüben ein MRT durchgeführt wird, liegt an der Notwendigkeit einer Ausgangs-MRT-Untersuchung bei Wechsel der Immuntherapie.

Wie unterscheidet man einen „Pseudoschub“ von einem echten Schub?

Gerade bei länger bestehender MS sind Schwankungen von neurologischen Ausfällen häufig und müssen von echten, immunologisch bedingten Schüben unterschieden werden. Man nennt dies „Pseudoschub“ und meint eine vorübergehende Verschlechterung bereits bestehender Symptome oder ein Wiederauftreten von in der Vergangenheit bestehender Schubsymptome.

Typische Ursachen dieser „Pseudoschübe“ sind eine Steigerung der Körpertemperatur (Uhthoff-Phänomen), Fieber, Infektionen, aber auch körperliche Überlastung, Stress oder psychische Belastungssituationen. Infektionen, insbesondere Harnwegs-, Atemwegs- und Hautinfekte im Rahmen eines Dekubitus, sind die häufigsten Ursachen von „Pseudoschüben“ bei MS, insbesondere bei progredienter MS. Daher ist vor einer MS-Schubtherapie eine Blutuntersuchung auf Entzündungswerte sowie ein Urinstatus, im Zweifel auch eine weitere Diagnostik, wie z.B. ein Röntgen-Thorax, notwendig. Gerade unter hochwirksamen MS-Immunmedikamenten können Infektionen gehäuft auftreten.

Bei hitzeabhängigen Symptomen bei MS (auch Uhthoff-Phänomen genannt), die durch eine gestörte Nervenleitfähigkeit bei steigender Körper- oder Außentemperatur auftreten, kann Kühlung oder auch Fampridin helfen.

Wie behandelt man einen Schub?

MS-Schübe mit relevanter Funktionseinschränkung sollten so rasch wie möglich behandelt werden. Therapie der Wahl ist die Hochdosis Steroidpulstherapie, in der Regel als intravenöse Infusion über 3-5 Tage. Sollte  ein venöser Zugang nicht möglich sein oder eine Infusion aus anderen Gründen, z.B. auf einer Reise, nicht verfügbar sein, kann die Steroidpulstherapie mit gleicher Wirksamkeit, aber schlechterer Verträglichkeit auch in Tablettenform eingenommen werden [einige erfahrene MS-Patienten nehmen nach Rücksprache mit ihrem Neurologen/ ihrer Neurologin auch Kortisontabletten mit auf die Reise, um gegebenenfalls reagieren zu können; Anm.d.Red.]. Vor Beginn einer Steroidpulstherapie müssen Kontraindikationen wie eine akute Infektion oder Schwangerschaft sowie eine Leberschädigung ausgeschlossen werden. Zudem muss beim ersten Schubereignis besondere Sorgfalt auf den Ausschluss anderer Erkrankungen verwendet werden.

In der Regel wirkt die Steroidpulstherapie sehr gut. Sollte es dennoch nicht zu einer Besserung kommen, kann entweder eine zweite Steroidpulstherapie in höherer Dosierung oder eine „Blutwäsche“ (Apheresetherapie) eingesetzt werden. Letztere wird an spezialisierten Zentren in zwei verschiedenen Varianten durchgeführt, entweder als Plasmapherese, hier wird Plasma getauscht und Spenderblutbestandteile zurückgegeben oder als Immunadsorption, hier erfolgt eine Entfernung von bestimmten Eiweißen (Antikörpern) aus dem Blut. Über neue Erkenntnisse zur Immunadsorption hat amsel.de ausführlich berichtet.

Eine Blutwäsche ist bei schweren MS-Schüben oder Schüben bei Neuromyelitis optica Spektrum-Erkrankung indiziert und sollte möglichst rasch nach Beginn der Symptome gestartet werden. Selten eingesetzte Methoden zur Schubtherapie sind die Infusion von Immunglobulinen, insbesondere bei Kindern und in der Schwangerschaft, sowie die intrathekale Steroidtherapie.

Ein Großteil der MS-Schübe bessert sich unter der Schubtherapie deutlich, weitere Verbesserungen sind innerhalb von 6 Monaten möglich. Häufig ist auch der frühzeitige Beginn einer funktionellen Trainingstherapie, beispielsweise im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme, sinnvoll.

Nicht alle Schübe müssen behandelt werden, aber jeder Schub sollte Anlass geben, über einen möglichen Wechsel der prophylaktischen MS-Immuntherapie nachzudenken.

Prof. Dr. med. Ingo Kleiter

→ Seit 2017 Ärztlicher Leiter und Geschäftsführer (med.) der Marianne-Strauß-Klinik, Behandlungszentrum Kempfenhausen für Multiple Sklerose Kranke gemeinnützige GmbH, apl Professor der Ruhr-Universität Bochum

→ Weitere Funktionen: Vorsitzender des Ärztliches Beirats des DMSG Landesverbandes Bayern, Mitglied im Ärztlichen Beirat des DMSG-Bundesverbands, Mitglied im erweiterten Vorstand der DMSG Landesverband Bayern sowie Vorstandsmitglied im Förderverein der Neuromyelitis optica-Studiengruppe (NEMOS) e.V.

→ 2000-2011: Weiterbildung zum Facharzt für Neurologie, danach Leiter des Neuroimmunologischen Labors und der MS-Studienambulanz, Neurologisches Universitätsklinikum Regensburg (Prof. Dr. U. Bogdahn)

→ 2011-2017: Oberarzt, Neurologische Klinik, St. Josef-Hospital Bochum, Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. R. Gold) und Professor für klinische und experimentelle Neuroimmunologie, Ruhr-Universität Bochum

Quelle: together 02.22

Redaktion: AMSEL e.V., 11.04.2023