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Überraschende Einblicke ins Immungeschehen bei MS

Prof. Dr. med. Alexander Flügel ist Preisträger 2021 der Sobek Stiftung. Der international anerkannte Experte hat in Experimenten nachweisen können, dass entgegen bisheriger Annahmen die MS durch komplexe systemische Interaktion entsteht.

Professor Flügel ist renommierter Grundlagenforscher zur Immunpathogenese der MS.  Seine bahnbrechenden Ansätze zur Intravitalmikroskopie haben zu neuen Sichtweisen der Immunpathogenese der MS geführt. Dadurch können die verschiedenen Krankheitsprozesse der MS, Entzündung und Demyelinierung, präziser definiert werden, mit dem Ziel, Therapien passgenauer einsetzen zu können bzw. passgenaue Therapien entwickeln zu können.

Der Institutsdirektor für Neuroimmunologie und MS-Forschung entwickelte eine bahnbrechende Methode, um im experimentellen Krankheitsmodell der MS antigenspezifische T-Zellen zu markieren und sie damit an den Entzündungsorten und beim Eintritt ins Zentralnervensystem sichtbar zu machen. In einem weiteren entscheidenden Forschungsschritt kombinierte der Göttinger Forscher die 2-Photonen-Mikroskopie mit der o.g. Fluoreszenzmethode. Damit gelang es ihm als erstem, die Bewegungsmuster von pathogenen T-Zellen bis zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke am lebenden Mausmodell darzustellen.

T-Zellen als Täter

Unter dem Titel „Autoaggression im Gehirn – die Täter sind im Visier“ beschrieb Prof. Flügel in seinem Vortrag anlässlich der Sobek-Preisverleihung die T-Zellen als „Täter“ bei der Autoaggression im Gehirn. Die klinischen Hinweise, dass MS-Patienten nach einem Atemwegsinfekt vermehrt Schübe entwickeln, und dass Rauchen das MS-Risiko erhöhen kann, brachten ihn auf eine Spur, die seine Forschungsarbeit bestätigte: Die „Täter“ bei MS nehmen einen Umweg über die Lunge, wo die ursprünglich neutralen T-Zellen umerzogen werden und die Fähigkeit erhalten, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und ins Gehirn einzuwandern.

Über ihr Mikrobiom hat die Lunge offensichtlich eine Verbindung zum Gehirn und beeinflusst auch das Verhalten von B-Zellen, Mikrogliazellen und Makrophagen (Fresszellen) als weitere Akteure im Entzündungsgeschehen. Unter dem 2-Photonen-Mikroskop lässt sich die Wanderung der krankmachenden markierten T-Zellen beobachten: von der Lunge gegen den Blutstrom durch die Blutgefäße im Rückenmark zum Gehirn, beim Durchbrechen der Gefäßwände und das Eindringen in den Liquor.  Damit sind sie fast am Ziel: der Liquor schwemmt sie ins Gehirn und dort greifen sie nicht nur die weiße Hirnsubstanz an, sondern auch die graue, was zur chronischen Erkrankung, zu irreversiblen Schäden und Atrophie führt.

Wer sind die Komplizen?

Weitere bahnbrechenden Erkenntnisse des renommierten Wissenschaftlers betreffen das Verhalten von autoaggressiven T-Zellen. Er zeigte, dass sie fast mühelos durch das sehr dichte Nervengewebe manövrieren können, bis sie auf lokale Makrophagen stoßen und von diesen aktiviert werden. Erst dann wird eine immunologische Kettenreaktion ausgelöst, die den Beginn der MS markiert. Außerdem identifizierte Flügel die Mechanismen, die es Immunzellen möglich machen, in verschiedene Gehirnregionen einzudringen und zu schädigen.

Offen seien nach wie vor viele Fragen: z.B. wo entsteht die Planung für den Überfall auf das Gehirn? Gibt es weitere Schauplätze bzw. Einflüsse? Welche Rolle spielt der Darm mit seinem Mikrobiom? Welche Mittäter gibt es? Welche Werkzeuge nutzen die Täter, um das Gehirn zu schädigen? Welche weiteren Zugänge oder „Einbruchswerkzeuge“ nutzen die Täter?

Die Erforschung der Mikrobiome von Lunge und Darm ist ein relativ neues Feld, und erst wenn ihre Rolle weiter entschlüsselt ist und die genannten Fragen ausreichend beantwortet sind, können Therapien entwickelt werden, die so gezielt in die kritischen Punkte des Krankheitsgeschehens eingreifen, dass unerwünschte Wirkungen vermieden werden können. Bis es vom aktuellen experimentellen Stadium zu Therapien kommen kann, werden allerdings noch viele Jahre vergehen.

Multiple Sklerose als systemischer Prozess

Die vielfältigen Erkenntnisse des promovierten Mediziners haben jetzt schon zu einer neuen Sichtweise der Immunpathogenese geführt: Multiple Sklerose muss als systemischer Prozess angesehen werden und nicht nur als eine auf das Zentralnervensystem begrenzte Immunreaktion. Seine Forschungsergebnisse sind damit wichtige Bausteine auf dem Weg zu hochwirksamen Therapieformen.

Professor Flügel forscht und lehrt an der Universität Göttingen, veröffentlicht seine Arbeiten in renommierten internationalen Fachzeitschriften und engagiert sich europaweit auf Leitungsebene in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien.

Redaktion: AMSEL e.V., 24.08.2022