Tolebrutinib wird aller Voraussicht nach der erste Bruton-Tyrosinkinase-Hemmer (kurz: BTKi) sein, der gegen Multiple Sklerose zugelassen werden wird. Mehr zu möglichen Zulassungsdaten unten im Text.
Und Tolebrutinib könnte, so es zugelassen wird, das erste "hirngängige" Medikament sein, welches bei MS sowohl die schubfreie sekundär-progrediente MS behandeln könnte als auch die langsame Behinderungszunahme unabhängig von Schubaktivität. Dies würde bedeuten, dass es, zunächst in den USA, für zwei Indikationen zugelassen werden könnte. Ob es womöglich auch in Kombination mit anderen Immunmodulatoren zum Einsatz kommen kann, um sowohl die schubförmige als auch die schleichende MS-Aktivität einzubremsen, ist derzeit noch völlig offen.
Schleichender Behinderungszuwachs begleitet die MS
Erst schubförmig, danach sekundär-progredienter Verlauf - von dieser zeitlichen Abfolge zweier MS-Phasen kommt die Wissenschaft mehr und mehr ab. Vielmehr scheinen zwei Arten von Schädigung parallel zu agieren, wobei zu Beginn einer MS oft der schubförmig auftretende Schaden überwiegt gegenüber der schleichend fortschreitenden Verschlechterung. Im Verlauf einer zunächst schubförmigen MS lassen die Schübe oft nach, während der kontinuierliche Behinderungszuwachs dominiert.
Die schwelende MS (schwelende Entzündung im Unterschied zu schubförmig auftretenden Entzündungen), also jener Anteil am MS-Geschehen, der, so der Stand der Wissenschaft heute, früh einsetzt und bereits die schubförmige Phase begleitet, trägt mitunter wesentlich zur Behinderungsprogression bei. Genau diesen Anteil soll Tolebrutinib eindämmen und damit die Behinderungszunahme verlangsamen.
Tolebrutinib kann schleichenden Prozess drosseln
Ein wichtiger Schritt, ein wichtiger Baustein in der MS-Behandlung der schleichenden MS, für die bislang die immunmodulatorischen Mittel rar sind. AMSEL hatte bereits mehrfach über die Ergebnisse aus den Zulassungsstudien berichtet:
- ECTRIMS 2024 - BTKi und Diagnosekriterien
In diesem Video fasst Prof. Mathias Mäurer die Ergebnisse der Phase3-Studien zu Tolebrutinib zusammen und ordnet sie ein. Das Video entstand kurz nach dem ECTRIMS-Kongress 2024, auf dem erstmals ausführlich aktuelle Daten aus drei Tolebrutinib-Studien vorgestellt wurden. - Neue Ergebnisse zu BTKi – das Tolebrutinib Studienprogramm
In diesem Blogbeitrag erläutert Prof. Mathias Mäurer den Stand zu Tolebrutinib weiter. - Neue Perspektiven für Menschen mit schleichender MS
In diesem Newsbeitrag erläutert amsel.de die Studienergebnisse.
Unklar war zu diesem Zeitpunkt noch, wann genau der Wirkstoff in den USA und in der EU zugelassen werden könnte.
US-Zulassung und EU-Zulassung des ersten BTKi?
Die FDA (Federal Drug Administration) hat dem Wirkstoff auf dem Weg zur Zulassung eine priorisierte Prüfung zugesprochen. Nach Angaben des Herstellers Sanofi könnte eine Entscheidung der FDA so bereits am 28. September 2025 erfolgen, Tolebrutinib also in den USA ab Ende September 2025 zugelassen werden. Auch in der EU werde derzeit der Zulassungsantrag geprüft, so Sanofi. In der EU würde darüber voraussichtlich im ersten Quartal 2026 entschieden, ist in der Finanzpresse zu lesen.
Der BTK-Hemmer Tolebrutinib zeigte sich in Studien (GEMINI 1und 2 sowie HERCULES) wirksam darin, die schleichende oder schwelende Multiple Sklerose aufzuhalten. Während der Wirkstoff gegenüber Teriflunomid (ein Wirkstoff der Wirksamkeitskategorie 1, zugelassen bei schubförmig MS) Schübe lediglich ähnlich stark verhindern konnte, waren die Ergebnisse, was die Behinderungsprogression betrifft, eindeutig und signifikant. Mitunter gab es auch Verbesserungen des Behinderungsgrades unter den Probanden im Tolebrutinib-Arm.
Wo eine Wirkung ist, gibt es meist auch Nebenwirkungen: Tolebrutinib wird, wie andere in Erprobung befindlichen BTKi, mit mitunter schweren Leberschädigungen in Verbindung gebracht (deutlich zu hohe Leberwerte zeigten sich bei etwa 0,5 % der Studienteilnehmer, vor allem in den ersten 90 Tagen). Im Falle einer Zulassung ist daher mit einem engmaschigen Leber-Monitoring zu rechnen.
Läsionen mit Eisenrand
Mehr noch zeigten Untergruppenanalysen inzwischen: Von Tolebrutinib könnten besonders Menschen mit sogenannten "Paramagnetic Rim Lesions" (PRL) profitieren. PRL sind Läsionen, die mit einem schnelleren Fortschreiten der Behinderung bei MS in Verbindung gebracht werden. Ihr äußerer Rand enthält eisenhaltige entzündliche Immunzellen, innen herrschen Demyelinisierung und Nervenzellschäden. Mit einer speziellen MRT-Technik lassen sich diese "Eisenränder" gut darstellen. Allerdings ist die Technik in Radiologiepraxen noch nicht üblich.
Aktuell hat das renommierte Fachjournal New England Journal of Medicine die Studienergebnisse veröffentlicht (mit Prof. Wiendl, Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie mit Neurophysiologie des Universitätsklinikums Freiburg und Sobek Forschungspreisträger 2015, als Letztautor für die GEMINI-Studien). Aus stehen noch die Ergebnisse aus der PERSEUS-Studie. Sie untersucht, inwiefern Menschen mit Primär Progredienter MS (PPMS) von Tolebrutinib profitieren könnten. Die Ergebnisse werden in der zweiten Jahreshälfte 2025 erwartet.
Über Bruton-Tyrosinkinase (BTK) und BTK-Hemmer (BTKi):
BTKi sind oral einzunehmende niedermolekulare Hemmer des Enzyms Bruton-Tyrosinkinase (BTK). BTK sind im menschlichen Körper entscheidend für die Aktivität verschiedener Immunzellen. Auch an solchen, die am Fortschreiten der MS beteiligt sind. BTK ist insbesondere für das Überleben und die Aktivierung von B-Zellen, den für die Antikörperbildung verantwortlichen Zellen, entscheidend. Diese gelten als Hauptakteure der Entzündung bei schubförmig verlaufender MS. Hemmt man die BTK, so hemmt man damit auch die Aktivierung von B-Zellen und im Fall von Multipler Sklerose das Entstehen von Autoimmunzellen. – Das erklärt, dass Tolebrutinib in den aktuellen Studien unter anderem die Schubrate senkte, wenn auch eher moderat (Wirkungsgrad 1 von 3).
Zudem reguliert dieses Enzym aber auch die Aktivierung von Zellen des angeborenen Immunsystems, einschließlich der Mikroglia. Und genau die stehen unter Verdacht, bei progressiven (progredienten) Formen der MS eine wichtige Rolle zuspielen. Das wäre eine Erklärung, warum Tolebrutinib den Behinderungszuwachs bremst. Auch diese Wirkung scheint eher moderat zu sein. Der Behinderungszuwachs wird nicht gestoppt. Allerdings gibt es für den progredienten Anteil der MS bisher nur wenige Mittel. Daher wäre die Zulassung eines (später vielleicht mehrerer) BTKi gegen schleichende MS heute ein großer Fortschritt.
Weitere Quellen: Multiple Sclerosis News Today "Tolebrutinib", abgerufen am 10.04.2025; Marketscreener, 09.04.2025; Pressemitteilung der Universität Freiburg, 09.04.2025; NEJM zu den GEMINI-Studien, 08.04.2025; NEJM zur HERCULES-Studie, 08.04.2025; Pressemitteilung von Sanofi, 25.03.2025.
Redaktion: AMSEL e.V., 10.04.2025