Eines der größten Probleme bei der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) ist, dass man nicht weiß, wie der Verlauf beim Einzelnen weitergeht. Wüsste man dies, könnte man die Therapie frühzeitig anpassen. Etwa von einer gering effektiven Therapie auf eine moderate wechseln. Oder auch auf eine hochwirksame Therapie. Die immunmodulatorischen Medikamente, die bei Multipler Sklerose zugelassen sind, teilen sich auf in Wirksamkeitskategorie 1, Wirksamkeitskategorie 2 und Wirksamkeitskategorie 3.
Beim einzelnen Individuum lässt sich jedoch schwer vorhersagen, wie der Verlauf weitergehen wird. Bisher galt als Kriterium für eine Anpassung der Therapie vor allem die "Klinik", sprich: ob der Patient weitere (klinische) Symptome entwickelt oder nicht. Die Veränderung im Kernspin (MRT) galt mehr als ergänzender Nachweis, dass es sich tatsächlich um einen MS-Schub handelt. „Wir behandeln keine Bilder“ besagte, dass Veränderungen im Magnetresonanztomografie allein keine Änderung der Behandlung nach sich ziehen müssten. Eine Entwicklung weg von der Klinik hin zur Biologie ergibt sich aus den jüngsten Anpassungen der McDonald-Kriterien: Hiernach gilt inzwischen auch eine rein radiologisch festgestellte MS (RIS, also radiologisch isoliertes Syndrom) als Diagnose MS, was eine Behandlung erlaubt, noch bevor Schübe auftreten (berichtet von Prof. Mathias Mäurer im jüngsten Video-Interview: ECTRIMS 2024: BTKi und Diagnosekriterien).
MS-Diagnose und -behandlung: Trend zur "Biologie"
Eine Beobachtungsstudie dreier neurologischer Universitätskliniken (in Wien, Innsbruck und Bern) bestärkt nun den Trend, auch klinisch „stumme“ Läsionen als Kriterium für eine Anpassung der Therapie herzunehmen. Ab zwei bzw. drei neuen Läsionen pro Jahr ergab sich für die Kohorte, die daraufhin ihre Therapie eskalierte, also zu einem stärkeren Wirkstoff wechselte, ein signifikant geringeres Risiko für weitere Schübe. Bei nur einer stummen Läsion ergab sich noch kein signifikant günstiger Einfluss eines Therapiewechsels.
Die retrospektive multizentrische Studie umfasst 131 Patientinnen und Patienten mit schubförmiger MS, von denen rund 40 % über ein Jahr hinweg klinisch stabil waren, also keine Symptome bemerkten. Diejenigen, die am Ende dieses Jahres 2 neue entzündliche Läsionen im MRT zeigten und daraufhin ihre Therapie intensivierten (von Wirksamkeitskategorie 1 auf 2 oder von Wirksamkeitskategorie 2 auf 3) verringerten ihr Schubrisiko in den Folgejahren um 70 %, die mit 3 Läsionen um 80 %. Bei der nicht-eskalierenden Gruppe (trotz neuer entzündlicher T2-gewichteter Läsionen) verdreifachte bzw. vervierfachte sich das Schubrisiko, je nachdem, ob sie 2 oder 3 klinisch stumme Läsionen hatten.
Wennschon die Studie keine sehr große Kohorte an Patieten untersucht hat, hilft sie doch, den Trend hin zur "biologischen Therapie" zu untermauern. Weiterhin gilt natürlich, dass ein Schub, der sich auch klinisch bemerkbar macht, einen Wechsel hin zu einer effektiveren Therapie untermauert.
Quellen: Pressemitteilung der Medizinischen Universität Wien, 10.09.2024; Neurology, 28.08.2024.
Redaktion: AMSEL e.V., 07.10.2024