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Therapeutische Höhepunkte vom ECTRIMS/ACTRIMS-Kongress 2017 (Teil 4)

Vom 25.-28.10.2017 fand in Paris der alljährliche weltgrößte Spezialkongress für Multiple Sklerose statt. Wie im letzten Jahr berichtet wieder Privatdozent Dr. Mathias Buttmann vom MS-Schwerpunktzentrum am Caritas-Krankenhaus Bad Mergentheim darüber. Im vierten Teil geht es um Studienresultate zur progredienten Multiplen Sklerose.

Es ist noch nicht lange her, dass positive Phase-3-Studien für Ocrelizumab zur Behandlung der primär progredienten MS und für Siponimod zur Behandlung der sekundär progredienten MS als wichtige Meilensteine präsentiert wurden. Neben weiteren Informationen zu diesen Medikamenten gab es in Paris nur Studiendaten zu Medikamenten, die sich noch in früheren Entwicklungsstadien befinden.

Zu Ocrelizumab, das in der Behandlung der schubförmigen MS hoch wirksam ist, wurde nochmals betont, dass das Medikament sicherlich nicht für jeden mit einer primär progredienten MS gut geeignet ist. Hierzu gibt es ja auch schon eine Stellungnahme des Ärztlichen Beirats der DMSG. Gemäß Ergebnissen der ORATORIO-Studie ist der Nutzen bei primär progredienter MS beispielsweise höher bei Nachweis Kontrastmittel-anreichernder MRT-Läsionen und bei einem Alter unter 45 Jahren.

AMSEL-Expertenchat zur Behandlung der progredienten Multiplen Sklerose

Solche Kriterien sind alle nicht absolut zu sehen, jedoch sollte bei primär progredienter MS aus meiner Sicht in jedem einzelnen Fall eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung durch eine echte Fachperson mit langjähriger MS-Erfahrung erfolgen, der die Studiendaten genau bekannt sind und die sich ausführlich Zeit nimmt für eine gemeinsame Diskussion von Nutzen und Risiken. Sobald eine Zulassungsentscheidung zu Ocrelizumab - wahrscheinlich in Kürze - da ist, wird es einen AMSEL-Expertenchat zu Ocrelizumab mit mir geben, der allerdings natürlich keinesfalls die persönliche Vorstellung in einem MS-Zentrum ersetzen kann.

Doch zurück zum Kongress. Hoffnung weckten Ergebnisse der Phase-2-Studie SPRINT-MS, in der Ibudilast bei primär oder sekundär progredienter MS die Abnahme des Hirnvolumens um 48 % reduzierte und auch auf einen kernspintomographischen Marker der Integrität des Hirngewebes einen günstigen Einfluss zeigte. Ibudilast ist ein sogenannter Phosphodiesterase-4-Hemmer, der bestimmte Entzündungsvorgänge im Gehirn dämpfen könnte, die für die chronisch-progrediente MS besonders relevant sind. Spannend hieran finde ich, dass Ibudilast in einer 2010 veröffentlichten Studie bei schubförmiger MS keine Effekte auf die Schubrate oder die Anzahl Konstrastmittel-anreichernder MRT-Läsionen gezeigt hatte, jedoch mögliche neuroprotektive Effekte. Das bewegt sich in Richtung einer spezifischeren Therapie für die chronisch-progrediente MS. Die bislang bei der chronisch-progredienten MS erfolgreichen Medikamente wirken ja bei schubförmiger MS stark und bei chronisch-progredienter MS nicht so stark.

Ob die günstigen MRT-Effekte von Ibudilast bei chronisch-progredienter MS in SPRINT-MS einen klinisch relevanten Nutzen anzeigen, ist momentan allerdings offen. Zur Beantwortung dieser wichtigen Frage war die Studie nicht angelegt. Mögliche Nebenwirkungen von Ibudilast waren Magen-Darm-Probleme, Hautausschläge, Depression und Fatigue, jedoch wurde das Medikament insgesamt wohl recht gut vertragen.

Bad Mergentheim an Studie zu hoch dosiertem Biotin beteiligt

Erwähnen möchte ich noch zusätzliche MRT-Ergebnisse zu hoch dosiertem Biotin aus der SPI-Studie, die bislang noch nicht bekannt waren. In dieser Studie führte Biotin zu einer signifikant stärkeren Abnahme des Hirnvolumens als Placebo! Was das bedeutet, ist momentan noch unklar. Die Studienautoren argumentierten, dass das einen gewünschten therapeutischen Effekt durch eine Abnahme einer pathologischen Zellschwellung unter Biotin widerspiegeln könnte.

Hirnatrophie ist nicht gleich Hirnatrophie. Das wissen wir schon länger von der sogenannten Pseudoatrophie als gewünschtem Ausdruck einer Entzündungshemmung; hier tritt jetzt möglicherweise eine weitere Dimension hinzu. Ich persönlich finde es allerdings unabhängig von der Frage einer eventuellen Zulassung von Biotin durch die Gesundheitsbehörden ratsam, vor einer längerfristigen Einnahme zunächst noch die Ergebnisse der auch in Bad Mergentheim laufenden SPI2-Studie abzuwarten, in der eine größere Anzahl von Studienteilnehmern als in der kleinen SPI-Studie unter kontrollierten Bedingungen untersucht wird.

Ermutigend waren beim Kongress präsentierte Registerdaten aus Frankreich, wo Biotin im Rahmen eines besonderen Programms schon zur MS-Behandlung verfügbar ist. In über 5000 Patienten zeigten sich hier bislang keine Sicherheitssignale. Weniger ermutigend, aber auch weniger aussagekräftig war ein Bericht über eine kleine italienische Kohorte von 41 Patienten mit progredienter MS, in der unter Biotin eine erhöhte Entzündungsaktivität im Vergleich zu vor der Behandlung beschrieben wurde.

Insgesamt ist die Studienevidenz zur Wirksamkeit von Biotin bei progredienter MS mit bislang nur einer kleinen kontrollierten Studie aus meiner Sicht momentan noch recht wackelig, auch ist die Sicherheit bei längerfristiger Einnahme meines Erachtens noch nicht hinreichend charakterisiert. Biotin bleibt aber auf jeden Fall ein spannendes Medikament. Als ein solches sollte man das ultrahoch dosierte Vitamin auf jeden Fall sehen.

Autor: PD Dr. med. Mathias Buttmann

Redaktion: AMSEL e.V., 15.11.2017