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Stammzelltherapie bei Multipler Sklerose

Ganz gewiss kein Spaziergang ist eine Immunablation gefolgt von einer Stammzelltherapie. Bisher nur innerhalb von Studien möglich, berichten Wissenschaftler von einer hohen Wirksamkeit - vorausgesetzt man überlebt die Prozedur. AMSEL.DE fragte Prof. Hayrettin Tumani über das Verfahren.

24 Patienten haben Harold Atkins und Team vom Ottawa Hospital behandelt zwischen Oktober 2001 und Dezember 2009. Alle litten an einer rasch fortschreitenden Variante der Multiplen Sklerose, entweder schubförmig remittierend oder sekundär progredient. Nur 23 Patienten überlebten. Der Grund: Das Immunsystem wird "platt gemacht", bevor es, einfach ausgedrückt, neue Stammzellen erhält, die ein neues, von Multipler Sklerose möglichst unbehelligtes Immunsystem, aufbauen sollen.

Eine solche echte Stammzelltherapie ist nur innerhalb von medizinischen Studien möglich. Und sie ist unter keinen Umständen zu verwechseln mit unseriösen Formen der Stammzelltherapie, die gern in Anzeigen beworben werden, mehrere Tausend Euro kosten (die Kassen zahlen nicht) und damit auch schon ihren Wirkungsgrad erschöpfen.

Stammzelltherapie - ein hohes Risiko

Den Studienautoren um Atkins zufolge hat eine Immunablation gefolgt von einer autologen Stammzelltransplantation in ihrer Behandlungsserie 23 Patienten im Frühstadium einer sehr aggressiven Multiplen Sklerose langfristig vor weiteren Schüben der Autoimmunerkrankung bewahrt. Ob man wirklich wie die Mediziner aus Kanada von einem Wendepunkt der MS-Therapie sprechen kann, bleibt zu bezweifeln, denn dem 24. Patienten brachte sie den Tod. Ein weiterer erfuhr behandlungsbedingt eine schwere Nebenwirkung, überlebte aber.

Und dabei gilt die Studie aus Ottawa noch als bisher sicherste, was die Zahlen angeht. Das Prinzip "Tausche altes Immunsystem gegen neues" wirkt attraktiv. Doch bei der Umsetzung geht der Patient ein sehr hohes Risiko ein. Schon das Ausradieren des alten Immunsystems mit hochgiftigen Substanzen ist gefährlich. Und auch die Zeit danach, Patienten verbringen Wochen unter Isolation im Krankenhaus, denn das neue Immunsystem muss erst lernen, sich gegen alle Umweltfeinde zu behaupten.

An der aktuellen Studie nahmen Patienten mit schubförmigem wie mit sekundär-progredienten Verlauf teil. Bei allen war der EDSS-Wert zuvor innerhalb von nur 5 Jahren trotz krankheitsmodifizierender Behandlung um ganze 3 Punkte angestiegen. In die Studie eingeschlossen wurden nur organgesunde Patienten.

In den durchschnittlich 6,7 Jahren Nachbeobachtungszeit kam es bei keinem der überlebenden MS-Patienten zu einem weiteren Schub. Neue Läsionen wurden bisher bei keinem der Patienten entdeckt. Bei manchen Teilnehmern haben sich Symptome verbessert. Bei 70 % der Teilnehmer soll der Krankheitsfortschritt gestoppt worden sein. Ob das im Umkehrschluss bedeutet, dass die Stammzelltherapie bei sekundären Verläufen nicht so wirkungsvoll ist, bleibt offen.

Prof. Hayrettin Tumani über Stammzelltherapie bei Multipler Sklerose

Die AMSEL-Onlineredaktion befragte Prof. Hayrettin Tumani, Universitätsprofessor an der medizinischen Fakultät in Ulm und Mitglied des Ärztlichen Beirates der AMSEL, zur Stammzelltherapie:

1. Herr Prof. Tumani, warum ist Stammzelltherapie so gefährlich ?

Prof. Hayrettin Tumani: Die Erfahrungen mit der Stammzelltherapie bei der MS sind trotz der vielen Studien, die allerdings mit relativ wenigen Patienten durchgeführt werden mussten, sehr begrenzt. Bei fast allen Studien wurden viele ernstzunehmende Nebenwirkungen, ja sogar tödliche Komplikationen berichtet.

2. Für welche MS-Patienten kommt sie überhaupt in Frage ?

Prof. Hayrettin Tumani: Deutliche Belege für eine Heilung der MS durch eine Stammzelltherapie liegen derzeit nicht vor, auch wenn der angenommene Wirkmechanismus als vielversprechend gilt. Zudem sind o.g. potentiell schwerste bis tödliche Nebenwirkungen bekannt. Daher muss von einer Durchführung der Stammzelltherapie außerhalb einer klar definierten Therapiestudie an spezialisierten Zentren dringend abgeraten werden.

3. Gibt es diese Möglichkeit auch in Deutschland ?

Prof. Hayrettin Tumani: Auch in Deutschland existieren kommerziell angebotene und jetzt verstärkt beworbene "Stammzelltherapien" für die Heilung der MS. Wie oben erwähnt, muss diese Therapie außerhalb von Therapiestudien an spezialisierten Zentren für gefährlich eingestuft werden, so dass vor deren Anwendung ausdrücklich zu warnen ist.

Quelle: The Lancet, 09.06.2016; Deutsches Ärzteblatt, 10.06.2016

Redaktion: AMSEL e.V., 04.07.2016