Spenden und Helfen

"Schuhlöffel" für das Immunsystem

28.03.08 - Berliner und Tübinger Forscher öffnen ein Schlüsselement der Immunabwehr. Auch mit MS könnte der Mechanismus in Zusammenhang stehen. Derzeit wird im Tiermodell geprüft, ob bestimmte Chemikalien den Schuhlöffeltrick beherrschen, so Dr. Olaf Rötzschke gegenüber der AMSEL-Onlineredaktion.

Ziel jeder Impfung ist es, das Immunsystem in die Lage zu versetzen, Krankheitserreger oder Krebszellen zu erkennen und zu zerstören. Die dazu in den Körper eingebrachten Bestandteile dieser Erreger (Antigene), können jedoch nur dann die Abwehrzellen des Immunsystems aktivieren, wenn die Erregerbruchstücke zuvor auf Antigenrezeptoren einer anderen Gruppe von Immunzellen geladen werden, die sie der Abwehr präsentieren. Forscher haben nun entdeckt, dass von ihnen entwickelte winzige Proteinbruchstücke dabei offenbar eine wichtige Rolle spielen können.

Im Labor konnten sie zeigen, dass diese künstlichen Fragmente die Beladbarkeit der Antigenrezeptoren (also der Bindungsstelle dieser Körperzellen, die nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip funktioniert) und damit die Stärke der Immunantwort deutlich "verbessern" können, so wie ein Schuhlöffel das Anziehen eines Schuhs beschleunigt. Die Arbeit, die Dr. Olaf Rötzschke vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch koordiniert hat und die in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP), Berlin, sowie der Universität Tübingen entstanden ist, hat jetzt PLoS ONE (Vol. 3, Nr. 3, e1814) veröffentlicht.

Zusammenhang mit MS

Der beschriebene Schuhlöffelmechanismus könnte in der Tat mit der Entstehung von MS in Zusammenhang stehen, so Dr. Olaf Rötzschke gegenüber der AMSEL-Onlineredaktion. Die genetische Prädisposition bei MS sei nicht hinreichend, da bestenfalls nur jeder 100. Träger der 'richtigen' Gene letztlich auch die Krankheit entwickelt. Entscheidend für die Auslösung müssen deshalb Umweltfaktoren sein, welche bislang allerdings kaum entschlüsselt sind.

Dr. Olaf Rötzschke weiter: "In einer Reihe früherer Arbeiten konnten wir bereits zeigen, dass nicht nur die im aktuellen Pressebericht vorgestellten Proteinfragmente sondern auch bestimmte Chemikalien den Schuhlöffeltrick beherrschen. Unter anderem wurde hierbei auch ihr Einfluss auf Antigene untersucht, welche während der MS von den autoreaktiven Abwehrzellen (CD4+ T Zellen) erkannt werden. So konnte gezeigt werden, dass einige dieser Chemikalien die Beladung der Antigenrezeptoren (MHC II) mit MS-assozierten Antigenen beschleunigen und dadurch die Immunantwort MS-spezifischer T-Zellen erheblich verstärkt wurde. Die Anwesenheit dieser Chemikalien könnte somit die Auslösung der MS erheblich begünstigen."

Begünstigen Chemikalien das MS-Risiko?

Gegenwärtig werde von ihm und seinem Team im Tiermodell der MS untersucht, ob die Chemikalien tatsächlich die Krankheit auslösen oder zumindest deren Verlauf verstärken können. Falls sich dies bestätige, müssten Chemikalien, welche über den Schuhlöffelmechansimus als 'MHC-Beladungsverstärker' (MHC-loading enhancer; MLE) wirken, tatsächlich als eine neue Klasse von Risikofaktoren angesehen werden.

Doch zurück zur allgemeinen Pressemitteilung über den Schuhlöffel-Mechanismaus: Erreger oder andere als fremd erkannte Strukturen, so genannte Antigene, werden, wenn sie nicht schon vorher abgefangen werden, von bestimmten Immunzellen geschluckt und im Innern in kleine Stücke zerschlagen. Die Zelle lädt dann Stichproben dieser Erregerbruchstücke auf einen Antigenrezeptor, kurz MHC II genannt, und transportiert sie damit auf ihre Oberfläche. Spezielle Abwehrzellen des Immunsystems (T-Helfer-Zellen) überprüfen regelmäßig den Inhalt der MHC II Moleküle. Falls dabei fremde Antigene aufgespürt werden, alarmieren sie die übrigen Abwehrzellen des Immunsystems, um die Infektion zu bekämpfen.

Eine erfolgreiche Impfung hängt maßgeblich davon ab, wie effizient die Antigene eines Impfstoffes auf die MHC Rezeptoren geladen werden. Die Forscher, die zu einem vom Bundesforschungsministeriums geförderten 'MHCenhancer'-Netzwerk gehören, fanden heraus, dass bestimmte kurze Proteinfragmente diesen Prozess erheblich beschleunigen können. Ähnlich einem Schuhlöffel, der dem Fuß in den Schuh hilft, weiten sie das MHC-II Molekül an einer bestimmten Stelle und ermöglichen es so den Antigenen in die für sie vorgesehene Bindungstasche des Rezeptors zu schlüpfen. Dr. Rötzschke hofft deshalb, diese im Labor entwickelten Proteinfragmente künftig für die Verbesserung von Impfungen einsetzen zu können. Die Idee dabei ist, einem Impfstoff das Proteinfragment beizugeben, damit der MHC-Rezeptor besser und mit den "richtigen" Antigenen beladen wird, um die Immunreaktion zu verstärken.

Antigenpräsentation und Immunerkrankungen

Darüber hinaus könnte dieser Mechanismus auch neue Erkenntnisse über die Entstehung bestimmter Autoimmunerkrankungen, wie zum Beispiel der Zöliakie, liefern. Bei der Zöliakie werden den Abwehrzellen des Immunsystems irrtümlich Bestandteile des Weizenmehls (Gluten) präsentiert. Die Betroffenen vertragen aus diesem Grund keine Lebensmittel aus Weizenmehl, wie zum Beispiel Brot und Nudeln.

Auch in diesem Fall muss das Weizenmehlantigen dafür auf MHC II Rezeptoren gepackt werden, wobei ebenfalls kurze Proteinfragmente behilflich sein könnten. Prinzipiell können die in diesem Fall unerwünschten Helfer sogar während der Verdauung der Weizennahrung vom Körper gebildet werden. Es besteht deshalb nach Ansicht von Dr. Rötzschke die Möglichkeit, dass hier ebenfalls der Schuhlöffeleffekt zum Tragen kommt und die Beladung des MHC II Rezeptors mit Zöliakie-auslösendem Antigen vermittelt. Neben der Verbesserung von Impfstoffen untersuchen die Forscher deshalb gegenwärtig, inwieweit solche Bestandteile bei der Entstehung der Autoimmunerkrankung eine Rolle spielen.

Das Projekt wurde mit Mitteln des Bundesforschungsministeriums im Rahmen der Initiative "Innovative Therapieverfahren auf molekularer und zellulärer Basis" gefördert, dessen Projektleiter Dr. Rötzschke ist.

Quelle: PLoS ONE, März 2008; idw, 19.03.08

Redaktion: AMSEL e.V., 28.03.2008