Schmerzen gehören zu den unsichtbaren Symptomen der Multiplen Sklerose und werden infolgedessen hinsichtlich Ausprägung und Häufigkeit in der Regel weit unterschätzt. Die Vielfalt der Schmerzformen ist, wie auch die Vielfalt der anderen Symptome der MS, sehr groß. Zudem ist die Schmerzwahrnehmung individuell höchst verschieden, sodass statistische Angaben über die Häufigkeit äußerst variieren. Untersuchungen sprechen von bis zu 75 oder gar 80% der MS-Patienten, die im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung Schmerzen entwickeln. Etwa 1/4 von ihnen sogar als frühes Symptom und ca. 1/3 als das eigentlich störende Symptom ihrer Erkrankung. Es tritt bei ihnen zumeist nicht nur eine einzelne Schmerzform auf, sondern neben den MS-assoziierten Schmerzen leiden MSPatienten in der Regel noch an zwei bis drei anderen Schmerzformen (z.B. Arthrose, Rückenschmerzen, Migräne, Blasenschmerzen).
Schmerzen sind behandlungsbedürftig
Obwohl Schmerzen zunehmend als behandlungsbedürftige Symptome erkannt werden, ist ihre Wahrnehmung noch sehr verbesserungsbedürftig. 1999 litten rund 20% der MSPatienten einer Studie zufolge unter Schmerzen, davon wurden nur 36% entsprechend behandelt. Selbst 2007 wurden nur 2/3 der MS-Patienten mit Schmerzen ärztlich beraten. Inzwischen hilft eine bessere Diagnostik, die verschiedenen Schmerzzustände eindeutiger zuzuordnen, wodurch eine zielgerichtete Behandlung möglich wird.
Prof. Dr. med. Horst Wiethölter
- Studium der Humanmedizin
- Klinische Ausbildung an der Universität
- Tübingen in den Gebieten Neuropathologie, Neurologie und Psychiatrie
- 1984 bis 1992 Oberarzt an der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen
- 1985 Habilitation für das Fach Neurologie
- 1989 bis 1992 Stellvertreter des Direktors der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen
- 1992 bis 2009 Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik am Bürgerhospital im Klinikum Stuttgart
- Seit 1985 besonderes Interesse an der Ursachenforschung und Behandlung neuro-immunologischer Erkrankungen insbesondere der MS
- Seit 1988 Mitglied im Ärztlichen Beirat der AMSEL (ehemals medizinischer Landesbeirat)
- seit 2000 im Vorstand der AMSEL;
- seit 2013 Vorsitzender der AMSEL;
- Mitglied im Ärztlichen Beirat der DMSG
Schmerzformen und -ursachen
Grundsätzlich lassen sich entsprechend ihrer Ursache zwei Gruppen von Schmerzformen unterscheiden:
MS-bedingter Schmerz: Der typische MS-Schmerz ist ein sog. neuropathischer Schmerz. Es handelt sich dabei um einen Schmerz, der durch die Schädigung schmerzleitender Nervenfasern oder schmerzverarbeitender Nervenzellen (bei der MS im Rückenmark oder Gehirn) entsteht. Durch die Schädigung können die Fasern gereizt werden und einen Schmerz verursachen, ohne dass ein üblicher Schmerz auslösender äußerlicher Reiz vorhanden ist.
Nicht MS-bedingter Schmerz: In die andere Gruppe gehört der nozizeptive Schmerz (durch Schmerzrezeptoren = Nozizeptoren), der in Muskeln, Knochen, Bindegewebe, Sehnen und inneren Organen durch entsprechende Gewebeschäden und -entzündungen ausgelöst wird. Reize also, die im Prinzip als natürliche Reaktion dem Körper als Alarmsymptom dienen. Dieser Schmerz entsteht nicht unmittelbar durch die MS, sondern durch deren Begleitsymptome und Komplikationen.
Neuropathische Schmerzen haben einen besonderen Charakter. Sie äußern sich impulsartig als einschießende, stechende, elektrisierende Schmerzen, die spontan, manchmal aber auch durch leichte Berührung ausgelöst werden können. Typische impulsartige (paroxysmale) Schmerzen treten z.B. als Trigeminusneuralgie bei 2–3% der MSPatienten auf. Paroxysmale Extremitäten schmerzen bei etwa 10% und das LhermitteZeichen bei bis zu 40% der MS-Patienten, letztere vor allem bei solchen mit Entzündungsherden im Rückenmark.
Am quälendsten können die Schmerzen im Bereich des sensiblen Gesichtsnerven (dem Trigeminusnerven als Trigeminusneuralgie) sein, die durch leichte Berührung (z.B. einen Windhauch im Gesicht, Waschen oder Rasieren) oder durch Bewegung (Sprechen, Kauen) aus gelöst werden und heftigst ins Gesicht einschießend nach Sekunden abflauen, manchmal aber auch in leichterer Form länger anhalten. Paroxysmale Extremitäten schmerzen schießen attackenförmig in Arm oder Bein ein. Sie sind meistens nicht so heftig und quälend wie die Trigeminusneuralgie. Startet der einschießende Schmerz im Nacken beim Vornüberbeugen des Kopfes (manchmal wie ein leichter Stromstoß, manchmal wie ein „Rieseln“) und breitet sich über den Rumpf in die Beine oder Arme aus, nennt man dies ein Lhermitte Zeichen. Es entsteht durch die Dehnung eines Rückenmarkherdes.
Neuropathische Schmerzen können auch chronisch als brennende, kribbelnde Missempfindungen (Dysästhesien) auftreten oder ein Einschnürgefühl verursachen. Die chronischen Schmerzen neigen zu nächtlichen Verschlimmerungen oder verstärken sich bei Temperatur wechsel und nach körperlicher Belastung. Sie können in allen Körperregionen auftreten und sind von den Schmerzen z.B. nach einer Gürtelrose unter Umständen nicht zu unterscheiden.
Mit zunehmender Krankheitsdauer und Symptomatik treten nozizeptive Schmerzen in den Vordergrund. Eine ausgeprägte Spastik (Steifigkeit durch erhöhte Muskelanspannung) oder einschießende Spastik (= Spasmen) schmerzt in der angespannten Muskulatur. Auch bewegungseingeschränkte und fehlbelastete Gelenke (z.B. bei einseitiger Lähmung oder Spastik) können Schmerzen bereiten. Druckgeschwüre an entsprechenden Stellen, die dauerndem Auflagedruck ausgesetzt sind (z.B. Gesäß bei Rollstuhlfahrern) und häufig auftretende Blasenentzündungen sind Ursachen für Schmerzen.
Ein Teil der Schmerzen entsteht beim Einsatz von Hilfsmitteln (z.B. einem schlecht angepassten Rollstuhl), Rücken und Nackenschmerzen durch langes Sitzen im Rollstuhl. Schmerzen werden durch Druck von Orthesen, Gehstöcke und andere Hilfsmittel verursacht.
Letztendlich können auch die zur Therapie eingesetzten Medikamente zu Schmerzen führen. Kortison kann für Magenschmerzen verantwortlich gemacht werden. Für Interferone sind grippeähnliche Symptome vor allem in der Anfangsphase der Behandlung typisch, die Spritzen der immunmodulierenden Substanzen unter die Haut können schmerzhaft sein und sogar zu kleinen Hautgeschwüren führen.
Therapie von Schmerzen bei der MS
Voraussetzung für eine zielgerichtete Therapie ist eine klare Beschreibung und Einordnung der Schmerzen. Hilfreich dazu ist z.B. eine schriftliche Aufzeichnung von Dauer, Intensität, evtl. Begleitsymptomen und auslösenden Situationen, die dem Arzt vorgelegt werden kann. Da insbesondere chronische Schmerzen einem Zusammenspiel aus körperlichen, seelischen und sozialen Einflüssen unterliegen, gilt es, auch diese mit abzuklären. Die Behandlung bedarf häufig eines kombinierten, aufeinander abgestimmten Verfahrens aus verschiedenen Methoden.
a) Medikamentöse Therapie:
- Antidepressiva (ursprünglich gegen Depressionen eingesetzt, wirken aber in geringer Dosierung gut gegen bestimmte Schmerzen),
- Antiepileptika (Medikament gegen epileptische Anfälle),
- Analgetika (Schmerzmittel),
- Antirheumatika (Mittel gegen Rheumabeschwerden)
b) Krankengymnastik:
- Manuelle Therapie mit und ohne Hilfsmittel
- Physikalische Therapie
c) Optimierung der Hilfsmittel (Schienen, Rollstuhl)
d) Ergänzende Therapie:
- Hydrotherapie, Akupunktur, Massage
- Ergotherapie, TENSVerfahren (spez. Schmerztherapie mit leichten Stromreizen),
- Chirurgische Verfahren (z.B. kontinuierliche Gabe von Schmerzmitteln in das Nervenwasser über eine Pumpe)
e) Psychosoziale Behandlung:
- Entspannungstherapie, kognitive Verhaltenstherapie
Paroxysmale neuropathische Schmerzen (Trige minusneuralgien, einschießende Extremitätenschmerzen und LhermitteSchmerzen) sprechen am besten auf Antiepileptika (Medikamente zur Behandlung von epileptischen Anfällen) an (z.B. Carbamazepin, Gabapentin, Pregabalin, Phenytoin). Manche der paroxysmalen Schmerzen bedürfen keiner medikamentösen Therapie und können durch Vermeidung von Auslösefaktoren (z.B. Berührungen, bestimmten Bewegungen) ausreichend kontrolliert werden.
Chronisch neuropathische Schmerzen werden mit Antidepressiva (z.B. Amitriptylin, Duloxetin) und antiepileptischen Präparaten (z.B. Carbamazepin, Oxcarbazepin, Gabapentin, Pregabalin) behandelt. Gelegentlich sprechen die Schmerzen auch auf klassische schmerz- und entzündungshemmende Medikamente (z.B. Paracetamol, Ibuprofen, Diclofenac) an. In Ausnahmefällen können auch Cannabis-Praparate eingesetzt werden.
Nozizeptive Schmerzen (also Schmerzen, die durch Spastik und infolge fehlhaltungsbedingter Überlastung an Gelenken, Muskeln und Bändern entstehen) werden mit physiotherapeutischen Anwendungen und Optimierung der Hilfsmittelversorgung angegangen. Medikamentös lassen sich Schmerzen durch ausgeprägte Spastik oder Spasmen mit Antispastika (Spastik lösen den Medikamenten wie Baclofen, Tizanidin, evtl. auch Kortison direkt in den Rückenmarkskanal) behandeln. Bei isolierten Schmerzen (lokal begrenzter Spastik) kann auch Botulinumtoxin eingesetzt werden.
Schmerzen durch therapeutische Maßnahmen (Interferone und Glatirameracetat) lassen sich lokal an der Einstichstelle durch Kühlung lindern. Die grippe-ähnlichen Symptome sprechen gut auf Schmerzmittel (z.B. Paracetamol, Ibuprofen) an. Ein Problem stellen die chronischen, insbesondere kombinierten Schmerzen dar, die „multimodal“ (d.h. mit verschiedenen Strategien) angegangen werden müssen.
Nicht alle Schmerzen können beseitigt werden, es gilt aber, alles daran zu setzen, sie zumindest bis auf ein erträgliches Maß zu lindern
Autor: Prof. Dr. med. Horst Wiethölter
Quelle: together 02.19.
Redaktion: AMSEL e.V., 18.07.2019