Scharf auf Süßes

Verletzte Nervenzellen bilden sich weiter aus, wenn sie in einer Matrix aus Zuckerresten schwimmen. Das könnte auch bei Multipler Sklerose einen Therapieweg aufzeigen.

Mit Speck fängt man Mäuse und mit Zucker lassen sich beschädigte Nerven am Leben erhalten. - Wer jetzt zum nächsten Schokoriegel greifen möchte, sollte erst mal weiterlesen.

Bochumer Forscher haben nämlich herausgefunden, dass bestimmte Zuckerreste im Rückenmark das Wachstum und Überleben von Nervenzellen steuern, die die Bewegung von Muskeln kontrollieren. "Wir hoffen, dass diese Erkenntnisse die regenerative Behandlung bei Nervenverletzungen verbessern können", erklärt Prof. Dr. Stefan Wiese aus der Arbeitsgruppe für Molekulare Zellbiologie (Fakultät für Biologie und Biotechnologie). Über diese Zuckerreste in der Umgebung der Zellen, die extrazelluläre Matrix genannt wird, berichten die Forscher im Journal of Neuroscience Research.

Nerven heilen als Vision

Gehirn und Rückenmark bestehen aus mehr als nur aus Nervenzellen. Die extrazelluläre Matrix, ein komplexes Gerüst aus Eiweißen mit Zuckerresten, umgibt die Zellen und beeinflusst deren Wohlergehen. Das Team von Prof. Wiese interessiert sich für die Interaktion der Matrix mit einer bestimmten Art von Nervenzellen, die Signale vom Gehirn an Muskeln weiterleiten (Motoneurone). Verletzte Motoneurone führen zu Lähmungen, so dass Ärzte großes Interesse daran haben, das Wachstum dieser Zellen beeinflussen zu können. "Wenn wir die Möglichkeit hätten, die extrazelluläre Matrix über Medikamente so zu verändern, dass sie das Wachstum und Überleben von Nervenzellen begünstigt, dann wäre das ein großer Schritt bei der Behandlung von Nervenverletzungen nach Unfällen oder auch für die Behandlung von Krankheiten wie etwa Multiple Sklerose", so Prof. Wiese.

Muskelsteuernde Nervenzellen wachsen lassen

In Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Andreas Faissner (Lehrstuhl für Zellmorphologie & Molekulare Neurobiologie, Fakultät für Biologie und Biotechnologie) kultivierte Dr. Alice Klausmeyer aus dem Team von Prof. Wiese Motoneurone aus dem Rückenmark von Mäusen auf verschiedenen Arten der extrazellulären Matrix, von denen die Forscher experimentell bestimmte Zuckerreste (Chondroitinsulfate) entfernten. Durch einen Vergleich der Zellkulturen mit und ohne Zuckerreste konnten sie zeigen, dass diese das Wachstum und Überleben der Motoneurone steuern.

Um das Wachstum der Zellen in greifbaren Zahlen auszudrücken, zählten die Bochumer Zellbiologen unter dem Mikroskop, wie viele Fortsätze die Motoneurone gebildet hatten, und maßen den längsten Fortsatz. Mit Hilfe der Fortsätze kommunizieren die Zellen und leiten Signale über große Strecken weiter. Einige der untersuchten Chondroitinsulfat-Zuckerreste wirkten sich positiv auf Länge und Anzahl der Fortsätze aus, andere hatten einen hemmenden Einfluss. Ob das Wachstum der Nervenzellen gefördert oder gehemmt wurde, hing außerdem davon ab, mit welcher Art von extrazellulärer Matrix ein bestimmter Zuckerrest kombiniert war.

Färben, zählen und messen

Zusätzlich färbten die Forscher ein Enzym in den Motoneuronen an, das ein Marker für das Absterben von Zellen ist. Aus dieser Analyse ergab sich, dass die untersuchten Chondroitinsulfat-Zuckerreste nicht nur das Wachstum der Motoneurone regulieren, sondern auch deren Leben verlängern. Die Experimente von Dr. Klausmeyer und ihren Kollegen wurden unter anderem vom RUB-Rektoratsprogramm zur Anschubfinanzierung von Forschungsprojekten des wissenschaftlichen Nachwuchses unterstützt.

Bis zu einer möglichen Wirkstoffentwicklung ist noch ein langer Weg, so Prof. Stefan Wiese gegenüber der AMSEL-Onlineredaktion. Und es bleibt abzuwarten, ob sich die Tiermodelldaten überhaupt auf den Menschen übertragen lassen. Sicher ist hingegen, dass der Verzehr von Schokoriegel oder anderen Süßigkeiten nicht hilft, die Zuckerreste in der Matrix des Rückenmarks positiv zu beeinflussen.

Quelle: Pressemitteilung der Ruhr-Uni Bochum, 08.02.11

Redaktion: AMSEL e.V., 09.02.2011