Groß sind die Erfolge noch nicht, die Anzahl der Probanden in der doppelt verblindeten, randomisierten Phase-2-Studie mit dem frei verkäuflichen Antihistamin der ersten Generation (amsel.de hatte berichtet) zudem klein. Doch Methode und Wirkstoff der US-amerikanischen Studie könnten einen wichtigen Schritt auf dem Weg der Remyeliniserung darstellen. Die Forscher schlagen damit zugleich einen MRT-Biomarker vor, um die Remyelinisierung zu messen.
Zerstörtes Myelin wiederherzustellen, nicht in den vernarbten Läsionen selbst, aber doch im übrigen Gewebe, ist erklärtes Ziel vieler MS-Forscher. Denn damit wäre es möglich, Behinderungen wenigstens teilweise rückgängig zu machen. Bisher zielen die meisten zugelassenen MS-Mittel darauf ab , weitere Entzündungen zu verhindern, den Krankheitsfortschritt einzubremsen oder – im besten Fall – ganz aufzuhalten. Hier hat die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten viel erreicht. Aber: Bereits zerstörtes Myelin bleibt zerstört, die Axone der Nervenzellen sind ohne Myelin schutzlos und das kann zu Einschränkungen im Lebensalltag führen.
Biomarker für Remyelinisierung
Das Myelin zu schützen, es sogar wiederaufzubauen, ist weit schwieriger als Entzündungen zu verhindern. Forscherinnen und Forscher weltweit suchen mit viel Einsatz nach Möglichkeiten der Remyelinisierung. Wenigstens ein kleiner Schritt in diese Richtung ist dem Stanford-University-Team nun mit weiteren Auswertungen der ReBUILD-Studie gelungen.
Nicht nur die Remyelinisierung selbst auszulösen, ist schwierig. Auch sie von außen zu messen und damit den Erfolg oder Misserfolg von potenziellen Wirkstoffen zu beurteilen, ist es. Zwar sind die Auswirkungen auf die Behinderung, im Falle der ReBUILD-Studie klein. Hier wurden die sogenannten visuell evozierten Potenziale (VEP), also die Nervenleitgeschwindigkeit nach Auslösen mit visuellen Reizen, gemessen. Doch erstmals, wie das Team aus Kalifornien mitteilt, sei es gelungen, mittels Magnetresonanztomografie (MRT) eine Remyelinisierung nachzuweisen.
Myelin-Wasser-Fraktion im Corpus Callosum messen
In der randomisierten, doppelt verblindeten Cross-Over-Studie gab es zwei Gruppen: Gruppe 1 erhielt für 90 Tage Clemastin, anschließend 60 Tage Placebo, bei Gruppe 2 war es genau umgekehrt. Vor Start, nach 90 und nach 150 Tagen wurde per VEP und MRT gemessen. In der Crossoverbeurteilung zeigte sich Clemastin als signifikant besser als Placebo.
Die Probanden waren vergleichsweise jung (ca. 40), noch nicht sehr lange erkrankt (im Schnitt 5 Jahre) und hatten relativ geringe Einschränkungen (EDSS ca. 2).
Im VEP erreichte die Studie das primäre Endziel mit einer um rund 2 MIllisekunden kürzeren Latenz. Das ist bereits aus einer früheren Veröffentlichung bekannt (amsel.de hatte berichtet).
Hier besonders hervorzuheben ist die angewandte Technik, mit der die Wissenschaftler nun das Myelin maßen: Zunächst legten sie als zu untersuchenden Ort den Corpus Callosum (das ist die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften) fest, weil der per se einen hohen Myelinanteil aufweist und somit Re- und Demyelinisierung deutlichere Ergebnisse hervorbringt als andere Bereiche im ZNS. Dann maßen sie mit einer laut eigener Einschätzung nicht zu aufwändigen (und bereits bekannten) MRT-Methode den Myelinanteil am Corpus Callosum. Hierbei wird der Wasseranteil gemessen, da viel Myelin auch viel Wasser einlagert, wenig hingegen weniger. Gemessen wird die Myelin-Wasser-Fraktion (MWF).
Remyelinisierung durch Clemastin
Das Ergebnis der MWF erreichte den Endpunkt: Vor der Behandlung waren die mittleren MWF-Werte der Gruppen im Corpus callosum ähnlich (0,087 vs. 0,088). Nach 90 Tagen stieg der mittlere MWF bei den Patienten unter Clemastin in Gruppe 1 auf 0,092 und stieg zwei Monate nach Beendigung der Behandlung weiter an (auf 0,094), was auf eine Myelinreparatur hindeutet.
In Gruppe 2, die in den ersten drei Monaten ein Placebo einnahm, sank der mittlere MWF-Wert auf 0,082. Mit der Behandlung über 2 Monate (in den Monaten 4 und 5) stieg der Wert auch hier an (auf bis zu 0,086).
Kein signifikanter Unterschied im MWF wurde jedoch in Bereichen mit Läsionen beobachtet. Dies deute darauf hin, dass in der normal erscheinenden weißen Substanz außerhalb der Läsionen eine erhebliche Myelinreparatur stattfand, so das Forschungsteam.
Clemastin: besser nicht auf eigene Faust einnehmen
Clemastin ist ein Antihistamin der ersten Generation und wird bei Heuschnupfen eingesetzt. Es ist frei verkäuflich. Auf eigene Faust Clemastin einzunhemen, ist jedoch keine gute Idee. Der Wirkstoff hat einen sedierenden Effekt, was in der kleinen Gruppe der Probanden die einzige Nebenwirkung war. Zusätzlich zu einer Fatigue möchte sicher kein MS-Patient diese Nebenwirkung. Vor allem aber gibt es auch Kontraindikationen wie Blasenentleerungsstörungen, Prostatahyperplasien, Magengeschwüre, Glaukom, Porphyrie, Herzrhythmusstörungen, Schwangerschaft, um nur einige zu nennen, die gerade auch einer dauerhaften Einnahme entgegenstehen.
Fazit: Größere Studien mit Clemastin sind vonnöten, um seinen Einsatz bei Multipler Sklerose zu beurteilen. Derzeit läuft zum Beispiel eine britische Studie in Kombination mit Metformin, eine weitere Studie in San Francisco ist geplant; insgesamt listet clinicaltrials.gov derzeit 6 Studien zu Clemastin.
Auch die Messmethode mittels MWF im Corpus Callosum muss noch mit größeren Datenmengen belegt werden. Wiewohl die Probanden in ReBUILD den schubförmigen Verlauf hatten (und zudem Immunmodulatoren einnahmen), könnte Clemastin oder MS-spezifizierte Weiterentwicklungen des Antihistamins auch für Erkrankte mit progredienten/ schleichenden Verläufen infrage kommen.
Quelle: Clinicaltrials.gov, abgerufen am 28.06.2023; PNAS, 08.05.2023; The Lancet, Dezember 2017.
Redaktion: AMSEL e.V., 28.06.2023