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Progrediente Multiple Sklerose – Zahlen aus dem MS-Register

Im Jahr 2001 wurde unter Federführung der DMSG, Bundesverband e. V., das Deutsche MS-Register initiiert, um bundesweit Daten von Patienten mit Multipler Sklerose (MS) und deren Versorgungssituation zu erheben.

Nach einer zweijährigen Pilotphase wurden 2005/2006 die Daten von 5.445 Patienten zur Verteilung innerhalb der einzelnen Schweregrade, dem Einfluss der Erkrankung auf die Erwerbsfähigkeit und die Versorgung mit immunmodulatorischen, symptomatischen medikamentösen und nichtmedikamentösen Therapien ausgewertet. Die Methodik der Datensammlung und die aktualisierte Auswertung zum Stichtag 28.02.2018 mit 18.030 Patienten wurden beschrieben.

Die progredienten Verlaufsformen stellen eine besondere Herausforderung bei der Behandlung dar; dies trifft insbesondere für die primär progrediente MS (PP-MS) zu. Während seit 1995 eine zunehmende Zahl verlaufsmodifizierender Präparate für die schubförmige MS zugelassen wurde, war für die (primär) progrediente Verlaufsform bis 2018 keine Therapie zugelassen. Mit dem positiven Nachweis der (moderaten) Verlangsamung der Behinderungsprogression unter Ocrelizumab besteht erstmals eine Behandlungsoption für die primär progrediente MS, die zunehmende Aufmerksamkeit erfährt.

Daher war es das Ziel der vorliegenden Auswertung des deutschen MS-Registers, die primär progrediente MS hinsichtlich soziodemographischer Faktoren, Häufigkeit im zeitlichen Verlauf und Verteilung des Behinderungsgrades zu charakterisieren und einen Überblick über die Versorgungssituation der Patienten zu geben. Die Querschnittsanalyse wurde auf Patientendaten der aktuellsten Visite aus den letzten vier Jahren beschränkt.

Ergebnisse

Zum Stichtag 28.02.2018 standen Querschnittsdaten von 18.030 Patienten aus 168 Zentren zur Verfügung, die überwiegend innerhalb des vorletzten Jahres dokumentiert wurden. Davon litten 996 (5,5%) an einer primär und 2.903 (16,1%) an einer sekundär progredienten MS (SP-MS) mit und ohne Schübe. Bei den übrigen Patienten (n = 13.371, 74,2%) wurde eine schubförmige MS (RR-MS) dokumentiert. Die Auswertung in Tabelle 1 zeigte hinsichtlich der demographischen und krankheitsspezifischen Charakteristika in Abhängigkeit von der Verlaufsform, dass bei der PP-MS gegenüber der RR-MS der Frauenanteil niedriger (58,6 % vs. 73,6 %), das mittlere Alter sowohl bei Krankheitsbeginn als auch zum aktuellen Erhebungszeitraum um 10 bzw. 14 Jahre höher, die Zeitdauer bis zur Diagnosestellung um knapp 1,5 Jahre länger und die Behinderung weiter vorangeschritten ist (mediane EDSS 5,5 vs. 2,0).

Besonders deutlich wird dies bei Betrachtung der EDSS-Verteilung. Während die RR-MS Häufigkeitsgipfel bei EDSS 2,0 (d. h. minimale Behinderung in einem Funktionssystem) und EDSS 1,0 (abnormer Befund bei der neurologischen Untersuchung in einem Funkti- onssystem) aufweist, liegen die- se bei der PP-MS bei EDSS 6,0 (Gehstütze notwendig, um 100 m weit zu gehen) und EDSS 6,5 (zwei Gehstützen bzw. Rollator notwendig, um 20 m zurückzulegen). Ein weiterer Gipfel findet sich bei EDSS 4,0 (Einschränkung der Gehstrecke auf 500 m ohne Hilfsmittel). Einen Überblick über die Häufigkeit der wichtigsten Symptome und deren Behandlungsfrequenz gibt Tabelle 2. Gangstörungen, Spastik, Blasenstörungen und Fatigue waren jeweils bei mehr als der Hälfte der PP-MS-Patienten vorhanden. Generell war die Symptomlast höher als bei der RR-MS. Fatigue und kognitive Störungen wurden – weitgehend unabhängig von der Verlaufsform – bei der überwiegenden Mehrheit nicht behandelt. Im Gegensatz dazu erhielten die PP-MS-Patienten häufiger als RR-MS-Patienten eine symptomatische Therapie für eingeschränktes Gehvermögen, Spastik und Blasenstörungen.

Eine immunmodulatorische Therapie wurde bei knapp 30% der Patienten mit PP-MS angewandt Abb. 1. Zumeist handelte es sich dabei um regelmäßige Steroid-Pulstherapien, aber auch Ocrelizumab (wahrscheinlich im Rahmen des Härtefallprogramms vor erfolgter Zulassung), Mitoxantron und Glatirameracetat. Etwas mehr als die Hälfte der SP-MS-Patienten erhielt eine verlaufsmodifizierende Therapie; hier waren Interferon-beta 1b, Mitoxantron, Interferon-beta 1a und regelmäßige Steroidpulse die häufigsten Therapieformen. RR-MS-Patienten wurden in über 80% der Fälle immuntherapeutisch behandelt, wobei eine Vielzahl an Therapien zur Anwendung kam – am häufigsten waren Interferone, Fingolimod, Dimethylfumarat, Glatirameracetat, Natalizumab und Teriflunomid.

Die berufliche Leistungsfähigkeit war bei PP-MS-Patienten stärker eingeschränkt als bei RR-MS-Pa-tienten. So waren nur noch 21,3% in Vollzeit beschäftigt (gegenüber 43,0%), 13,4% in Teilzeit (gegenüber 21,8%), und 36,5% waren vorzeitig berentet (gegenüber 17,0%). Dabei ist zu berücksichtigen, dass das mittlere Alter bei PP-MS-Patienten knapp 14 Jahre höher war, was sich auch im höheren Anteil der Altersberenteten niederschlug (19,7% vs. 3,0%). Bei SP-MS-Patienten war jedoch die berufliche Leistungsfähigkeit noch stärker eingeschränkt als bei PP-MS-Patienten, und das bei vergleichbarem mittleren Alter: in Vollzeit beschäftigt waren 13,5%, Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bezogen 11,2%, und 48,3% waren vollständig und vorzeitig berentet.

Weniger PP-MS-Patienten als vermutet

Mit seiner kontinuierlichen Weiterentwicklung, sowohl in technischer Hinsicht als auch in Bezug auf die ständig wachsende Zahl von Zentren und Patienten, ist das Deutsche MS-Register mittlerweile eine der größten Datenerhebungen zur MS weltweit. Die Auswertung von mehr als 18.000 Patienten, davon knapp 1.000 Patienten mit PP-MS und knapp 3.000 Patienten mit SP-MS, die seit 2014 in der Forschungsdatenbank dokumentiert sind, ermöglicht eine detaillierte Analyse der progredienten MS und liefert wertvolle Erkenntnisse zu deren Krankheitsbelastung, Versorgungssituation und beruflicher Situation.

Im Vergleich mit der früheren Auswertung des MS-Registers von 2008 ist der Anteil der progredienten MS niedriger als erwartet. So war bei der aktuellen Erhebung nur bei 5,5% der Patienten eine PP-MS und bei 16,1% eine SP-MS dokumentiert, während diese Zahlen zehn Jahre zuvor noch bei 9% und 32% lagen, also nahezu doppelt so hoch waren. Hierbei könnte jedoch die bei der damaligen Erhebung geringere Zahl von Zentren und Patienten eine Rolle spielen, sodass die breitere Datenbasis zu einem repräsentativeren Bild der MS geführt haben könnte. In Übereinstimmung damit lieferte MS-Base, ein internationales Register mit mehr als 35.000 Patienten ähnliche Ergebnisse mit 5,0% für den primär und 11,8% für den sekundär progredienten Verlauf. Im schwedischen MS-Register war im zeitlichen Verlauf ein kontinuierlicher Rückgang des Anteils der PP-MS-Patienten nachweisbar, von 12,4% im Diagnosezeitraum 1980-1984 bis zu 6,2% im Zeitraum 2010-2014. Im Gegensatz dazu lag in einer vergleichbaren Analyse des Deutschen MS-Registers der PP-MS-Anteil konstant zwischen 5,8% und 6,2% in Fünfjahreszeiträumen zwischen 1980 und 2010.

Mehr Symptome bei PP-MS

Nicht unerwartet waren Behinderungsgrad und Symptomlast bei den progredienten Verlaufsformen stärker ausgeprägt als bei der schubförmigen MS. Die Häufigkeiten der Symptome waren aber nahezu identisch bei PP-MS- und SP-MS-Patienten, was indirekt frühere Annahmen unterstützt, dass der Krankheitsverlauf der SP-MS und der PP-MS nicht unterschiedlich ist, sofern man nur den Beginn der progredienten Phase berücksichtigt. Während bei der schubförmigen Verlaufsform die Fatigue mit Abstand das häufigste Symptom war, dominierten bei den progredienten Formen eingeschränktes Gehvermögen, Spastik und Blasenstörung das Krankheitsbild. Eine Fatigue wurde aber dennoch bei mehr als der Hälfte der Patienten dokumentiert und war damit etwas häufiger als bei der schubförmigen Verlaufsform. Die berufliche Leistungsfähigkeit war bei der progredienten MS stärker beeinträchtigt als bei der schubförmigen MS. In Anbetracht des höheren Alters und des längeren Krankheitsverlaufs verwundert dies nicht. Hingegen ist es erstaunlich, dass bei der SP-MS trotz vergleichbarem Alter, Behinderungsgrad und Symptombelastung deutlich mehr Patienten mit SP-MS als mit PP-MS vorzeitig verrentet waren. Die Gründe hierfür sind nicht klar, möglicherweise spielt die längere Krankheitsdauer bei Patienten mit SP-MS hierbei eine Rolle.

Angesichts der im Erhebungszeitraum eingeschränkten immuntherapeutischen Optionen erstaunt, dass nahezu jeder dritte Patient mit PP-MS behandelt wurde. Zwar handelte es sich überwiegend um regelmäßige Steroidpulse und Ocrelizumab (im Rahmen des Härtefallprogramms), aber auch um andere Behandlungsversuche mit Präparaten, für die kein Wirksamkeitsnachweis besteht. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich die Versorgungssituation nach der Einführung von Ocrelizumab und ggf. anderer Substanzen zur Behandlung der progredienten MS verändern wird.

Positiv hervorzuheben ist, dass die symptomatische Therapie vor allem für Gangstörungen und Spastik vergleichsweise häufig angewandt wird. Dies spricht dafür, dass bei den progredienten Verlaufsformen der Fokus eher auf der symptomatischen und weniger auf der verlaufsmodifizierenden Therapie liegt. Trotz dieser positiven Entwicklung bleiben die unsichtbaren Symptome der MS wie Fatigue und kognitive Störungen überwiegend unbehandelt. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, auch bei Patienten mit progredienter Verlaufsform diese Symptome adäquat zu erfassen, die verfügbaren Behandlungsoptionen konsequent und gezielt einzusetzen und damit Lebensqualität und Alltagskompetenz der Patienten zu verbessern.

Was die Zahlen zeigen

Unter Federführung der DMSG, Bundesverband e. V. wurde 2001 ein bundesweites MS-Register initiiert, um epidemiologische Daten zur MS, deren Verlaufsformen und der Versorgungssituation in Deutschland zu erheben. Das Ziel der vorliegenden Auswertung war eine detaillierte Analyse der progredienten MS und der Versorgungssituation der betroffenen Patienten.

Zum Stichtag 28. Februar 2018 nahmen 168 Zentren verschiedener Versorgungsbereiche teil. Die Querschnittsanalyse wurde auf Patientendaten der aktuellsten Visite aus den letzten vier Jahren beschränkt. Daten von 18.030 MS-Betroffenen konnten ausgewertet werden. Davon litten 996 Patienten (5,5%) an einem primär (PP-MS) und 2.903 Patienten (16,1%) an einem sekundär progredienten Verlauf (SP-MS). Damit war der Anteil der progredienten Verlaufsformen niedriger als erwartet, aber vergleichbar mit anderen Erhebungen und im zeitlichen Verlauf konstant. Der Behinderungsgrad und die Symptombelastung waren zwischen SP-MS und PP-MS nicht unterschiedlich. Trotz fehlender Zulassung wurden 30% der PP-MS-Patienten immuntherapeutisch behandelt, während Fatigue und kognitive Störungen weitgehend unbehandelt blieben.

Quelle: AMSEL e.V., together *02.20

Redaktion: AMSEL e.V., 06.10.2021