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Praxisrelevante Fragen zu Multiple Sklerose (Teil 1)

Auf dem 7. Stuttgarter MS-Symposium standen Monoklonale Antikörper, Biotin, Schwangerschaft, Fahrtüchtigkeit, Rehabilitation und leitliniengerechte Versorgung im Mittelpunkt.

Die Fortbildungsveranstaltung für mit der Behandlung MS-Erkrankter tätige Ärzte aus Klinik und Praxis bot umfassende, auf den Punkt gebrachte Informationen. AMSEL möchte mit der alle zwei Jahre angebotenen Veranstaltung Ärzte unterstützen, MS-Erkrankte bei allen Fragen optimal behandeln zu können. Im ersten Teil des Veranstaltungsberichts stehen monoklonale Antikörper und Neuigkeiten der beiden großen Neurologenkongresse AAN und ECTRIMS im Fokus.

Antikörper-basierte Therapien

Sind sie nützlich oder zu riskant? Diese Frage beleuchtete am Beispiel zweier monoklonaler Antikörper Prof. Dr.med. Hayrettin Tumani. Grundsätzlich, so der Ärztliche Leiter der Fachklinik für Neurologie Dietenbronn, "sind Antikörper-Therapien ein wesentlicher Fortschritt in der Behandlung der MS, jedoch nicht ohne Risiko." Mit ihnen hat neben den etablierten Therapiestrategien Immunsuppression und Immunmodulation eine neue Strategie in der MS-Behandlung Eingang gefunden, die gezielte Immunintervention.

Bei Natalizumab, anfänglich scheinbar eine gut wirksame und verträgliche Therapie, zeigten sich im Langzeitverlauf vermehrt PML-Fälle. Die progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML) wird durch das John-Cunningham-Virus (JCV) ausgelöst und ist eine – wenn nicht oder zu spät erkannt - lebensbedrohliche Gehirninfektion. PML-Symptome könnten leicht mit Schubsymptomen verwechselt werden. Um sie voneinander abzugrenzen, nannte der Ulmer Experte Krampfanfälle, kognitive Beeinträchtigungen und Sprachstörungen als typische, eine Opticusneuritis oder spinale Beschwerden als untypische PML-Symptome. Die Diagnose einer PML wird über eine Liquoruntersuchung gestellt. Die wichtigsten therapeutischen Konsequenzen bei PML-Verdacht seien das sofortige Absetzen des Antikörpers und eine Plasmapharese. Zur Früherkennung ist vor allem die engmaschige Überwachung des Patienten zu nennen.

 

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Intervall der Gabe verlängern

Bei Patienten mit einem hohen Risiko, eine PML zu entwickeln (Vorbehandlung mit Immunsuppressiva, JCV-positiv, länger als 48 Monate unter Antikörpertherapie), die die Therapie fortführen möchten, habe eine Studie aus den USA gezeigt, dass eine Intervallverlängerung bei der Natalizumab-Gabe von vier auf bis zu acht Wochen gleiche Wirkung zeige, PML-Fälle aber verringere. PML-Fälle gebe es nicht nur unter Natalizumab, sondern auch unter anderen Therapien wie Fingolimod oder Dimethylfumarat, wenn gleich in geringerer Häufigkeit.

Als Besonderheit in der Verabreichungsform stellte Tumani das 2013 zugelassene Alemtuzumab vor. Es wird in Jahr 1 intravenös an fünf aufeinanderfolgenden Tagen, im Jahr 2 an drei Tagen und ggf. in Jahr 3 mit einem weiteren Zyklus verabreicht. Besonders im ersten Monat sei aufgrund des Wirkmechanismus eine Infekt-Prophylaxe verpflichtend, ergänzt durch eine sorgfältige engmaschige Beobachtung über vier Jahre nach der letzten Infusion. "Die neuen Therapien erfordern eine strikte Überwachung des Patienten." betonte der MS-Experte.

Neues von AAN und ECTRIMS

Eine subjektive Auswahl interessanter Themen der bedeutendsten Neurologenkongresse in den USA und Europa präsentierte Prof. Dr.med. Mathias Mäurer. Z.B. aktuelle Untersuchungen über die Bedeutung des Darmmikrobioms, also der Bakterien im Verdauungstrakt, für die Entwicklung einer MS. Eine Veröffentlichung zeige, dass im Darm eine Immunmodulation stattfinde, wie genau, ist noch ungelöst. (Wir berichteten.) Andere Untersuchungen beschäftigten sich mit der Bedeutung kurzfettiger Fettsäuren, die mehr regulatorische Zellen erzeugten, die wiederum immunmodulierend wirken. Ebenfalls ein interessanter Ansatz, aber noch ohne Praxisrelevanz seien auch Forschungen zum Schlaf-Wach-Hormon Melatonin, die einen höheren Melatonin-Spiegel mit weniger Schüben in Verbindung bringen.

Aufschlussreiche Neuigkeiten brachte der Chefarzt am Caritas Krankenhaus Bad Mergentheim auch zu neuen Wirkstoffen mit. Studien zu Ocrelizumab zeigten im Vergleich zu Rebif eine hervorragende Wirksamkeit mit sehr gutem Nebenwirkungsprofil bei schubförmiger MS, aber auch bei primär chronisch progredienter Verlaufsform (PPMS). Auch Daclizumab hat sich im Vergleich zu Interferonen als wirksam erwiesen. Daten einer kanadischen Multicenter-Studie zeigten erste Ergebnisse mit Minocyclin bei MS-Patienten mit erstem klinischen Syndrom (CIS). "Die Borrelien-Theorie, die in diesem Zusammenhang wieder aufgeflammt ist, hat damit aber nichts zu tun", stellte der erfahrene Neurologe ausdrücklich fest.

Neue Konzepte seien für die Behandlung der progredienten MS erforderlich, wie auch die negativen Studienergebnisse mit Fingolimod gezeigt hätten. "Wenn keine Evidenz mehr für Entzündung vorliegt, hilft Immunmodulation nicht mehr." Mit anti-LINGO werde ein Wirkstoff getestet, der Myelin reparieren könne. Inwieweit es auch protektiv wirke, müsse weiter untersucht werden. Den Effekt von hochdosiertem Biotin (300 mg/d) für die progressive MS hatten französische Forscher untersucht. Ausführliche Informationen dazu gibt es im Blog von Professor Mäurer auf www.ms-docblog.de. Sie zeigten eine Verbesserung des EDSS-Wertes durch das hochdosierte wasserlösliche, aber bisher nicht käufliche Vitamin B7 oder H. Bei allen Neuigkeiten auf den verschiedensten Ebenen gelte, dass es sich oft bisher nur um Trends handele. Allerdings, so Mäurer: "Man sollte nicht jedem Trend hinterherlaufen."

Über die weiteren Fortbildungsthemen lesen Sie im zweiten Teil.

AMSEL dankt den Unternehmen Almirall, Biogen, Genzyme, Merck Serono, Novartis und Teva für die Unterstützung bei der Durchführung der Veranstaltung.

Redaktion: AMSEL e.V., 02.12.2015