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Physiotherapie bei Multipler SkleroseErgänzung zur medikamentösen Therapie

AN 4/2002 - Die Ergebnisse der Forschung in der Neurorehabilitation belegen, dass Anpassungsvorgänge im Zentralen Nervensystem (ZNS) stattfinden, um nach einer Schädigung eine optimale Wiedererholung und Neuordnung zu schaffen. Es ist Aufgabe und Ziel der Physiotherapie zugleich, diese Reorganisation optimal zu gestalten.

Physiotherapeutischer Befund
Dazu gehört in erster Linie die Orientierung am Patienten, die Feststellung, auf welchem Leistungsstand sich der Patient befindet, um mit ihm zusammen das Behandlungsziel festzulegen. Meine Frage, was denn der Patient von mir, dem Therapeuten, erwartet, trifft oftmals auf Unverständnis. Je genauer wir jedoch zu Beginn die im Alltag auftretenden Schwierigkeiten erfassen, um so zielgenauer kann die Behandlung darauf eingehen. Mitunter werden auch Wünsche und unrealistische Gedanken laut - das ist menschlich und verständlich. In kurzer Zeit ist jedoch klar, welche Aspekte der Alltagsgestaltung in den Brennpunkt der Bemühungen gehören und welche strukturellen Defizite zu deren Behinderung führen.

 
KLAUS GUSOWSKI1976 - 1979 Ausbildung zum Kranken-
gymnasten an der KG-Schule
der Universität Mainz
1979 - 2001 Rommel-Klinik Bad Wildbad,
stellv. ltd. Krankengymnast
01.07.2001 Leitender Krankengymnast im
Neurologischen Rehazentrum
Quellenhof in Bad Wildbad
 


Tonus (Muskelspannung) folgt der Bewegung wie ein Schatten.
Sherrington sagte diesen Satz bereits zu Beginn des 20. Jahrhundert. Er meinte damit, dass man an der Muskelspannung die Qualität einer Bewegung ablesen kann. Eine "Normale Bewegung" benötigt eben eine fein angepasste, normale Muskelkoordination. Hier finden wir bei Affektionen des ZNS am ehesten die Abweichungen. Sie tragen verschiedene Namen wie Spastik, Rigor Hypertonus, Ataxie, Hypotonus, Koordinations- oder Gleichgewichtsstörung... Für den Patienten haben diese Namen weniger Bedeutung. Vielmehr finden die Abweichungen vom Tonus ihren Ausdruck in der Behinderung alltäglicher Verrichtungen. Die Aussagen der Patienten lauten dann:
Ich habe Mühe, vom Sitzen aufzustehen; Beim Einsteigen in das Auto gehorcht mir mein linkes Bein nicht; Wenn es dunkel wird, kann ich mein Gleichgewicht nicht halten; Ich stürze häufig; Meine Hand kann das Glas nicht halten; Ich brauche Hilfe bei der Körperpflege usw. Genau die Veränderungen in der Muskulatur zu erspüren, die Vielzahl von Einzelbewegungen zu analysieren, die eine Alltagshandlung erst möglich macht und eine adäquate Therapie zu finden, ist Aufgabe jedes ersten Kontaktes mit dem Patienten.

Physiotherapeutische Behandlungsmethoden
Glücklicherweise stehen uns heute eine ganze Anzahl von Behandlungsmethoden zur Verfügung, um die Spannungsverhältnisse der Muskulatur in ihrer Planung im ZNS zu beeinflussen. Verschiedene Behandlungskonzepte mit unterschiedlicher Vorgehensweise erlauben es, unsere Pati-enten in einer individuellen "Sprache" anzusprechen. Diese Sprache verlangt Aktivität vom Patienten - Aktivität zur Stabilisierung und zum Wiedererlernen der Bewegungsabläufe, die den Alltag ausmachen bzw. erleichtern.

Das Bobath-Konzept
Ein Dach gibt uns die in allen am Patienten arbeitenden Berufen anwendbare Konzeption nach Dr. Karel und Dr. Berta Bobath. Sie haben die Gestaltung des Tonus direkt in ihr Vor-gehen integriert, arbeiten in und an Alltagssituationen und geben über die "fazilitierende" Hand Unterstützung und Gestaltung des Bewegungsablaufes zugleich. Dabei wird aber der Patient zugleich gefordert, sein ganzes Eigenpotential mit einzubringen und zu vergrößern. Wir sind also in einem sehr aktiven Behandlungskonzept, dessen oberstes Anliegen darin besteht, die Bewegung in den Dienst der selbständigen Alltagsbewältigung zu stellen. Dabei fällt es diesem Konzept besonders leicht, Schwierigkeiten auf dem Gebiet der Neuropsychologie, internistische Probleme und auch orthopädische Nebenbefunde mit einzubeziehen.

Vojta-Therapie
Eine andere Vorgehensweise entdeckte Dr. Vaclav Vojta im Umgang mit behinderten Jugendlichen. Im nach ihm benannten Vojta-Konzept wird auf reflektorischem Weg ver-sucht, das Grundmuster des "Reflex-Kriechens" und des "Reflex-Umdrehens" aufzubauen. Die geschickte Hand des in dieser Methode ausgebildeten Therapeuten löst die empirisch gefundenen Zonen am Körper des Patienten in der Weise aus, dass die Schwachstellen der Tonussteuerung gemindert oder behoben werden. Im Ergebnis präsentiert der Patient eine bessere Muskelkoordination auch in der Bewältigung der Alltagsaufgaben. Richtschnur ist für Herrn Dr. Vojta die frühkindliche Entwicklung der Bewegung im ersten Lebensjahr.

Die Stemmführung nach R. Brunkow
Eine Physiotherapeutin namens Roswitha Brunkow hat zum Teil am eigenen Leibe, im Rahmen einer Erkrankung, die sie zeitweise an den Rollstuhl fesselte, die Auswirkung von Stützaktivität der Arme oder Beine auf die Muskelaktivität des ganzen Körpers erlebt und studiert. Ebenfalls an der Entwicklung der menschlichen Motorik im ersten Lebensjahr orientiert nutzt sie Ausgangsstellungen, in denen sie über Hautreize und Stimulus der Propriozeptoren ganze Muskelketten anspricht, die die Koordinierung der Muskulatur von Rumpf und Extremitäten stärkt und darüber den Alltag der Patienten erleichtert. Die Vielzahl der Ausgangsstellungen erlaubt ein individuelles Eingehen auf die Möglichkeiten des Patienten, die adäquate Stimulation vermeidet Überforderungen. Dieses Konzept ist vorwiegend statisch , ebenso wie die Behandlung nach Dr. Vojta.

PNF
Die Stimulation der eben erwähnten Propriozeptoren benutzt der Behandler zum Aufbau ganzer Muskelketten bei der Propriozeptiven Neuromuskulären Fazilitation nach M. Knott und Dr. Kabat. Gezielte und dosierte Widerstände an den Extremitäten oder am Becken und Schulterblatt bzw. Kopf sprechen Muskeln an, die in einer Kette zusammenarbeiten. Der Rumpf wird zur besseren Steuerung gebahnt, ebenso wie die Arme und Beine bis hin zur Hand- und Fußmuskulatur. Dieses vielfach als einfaches Kräftigungsinstrument benutzte und damit degradierte Konzept hat jedoch eine hohe Koordinationsfähigkeit bis hin in die Gestaltung komplexer Bewegungsabläufe wie zum Beispiel das Gehen. Die Mitarbeit des Patienten ist wie auch bei den drei vorher beschriebenen anderen Vorgehensweisen unbedingt wichtig.

Neben diesen Behandlungsmethoden, die in ihrer Unterschiedlichkeit ein individuelles Eingehen auf die Probleme aber auch die Persönlichkeit unserer Patienten erlauben, gibt es noch weitere Vorgehensweisen, die hier nicht näher und beschrieben sicherlich auch nicht vollständig erwähnt werden. Die Möglichkeiten der Feldenkrais-Therapie, die Effekte der Hippotherapie oder auch die Elemente der Hydrotherapie, erweitert um das Konzept von MacMillan sind hier zu nennen.

Komplikationen bei der Multiplen Sklerose
Komplikationen, die durch die veränderte nervale Steuerung bedingt oder sich zusätzlich zur Neurologie aufpflanzend einstellen, sind ebenfalls im Blick der Physiotherapie.

Verkürzungen von Muskeln und die damit verbundene Einschränkung der Gelenkbeweglichkeit sind leider häufige Begleiter der Fehlsteuerung von Muskelaktivitäten. Durch die Festlegung auf spastische Bewegungsmuster sind einige Muskeln nicht mehr in der Notwendigkeit, ihre volle Länge zu entfalten. Verkürzen diese Muskeln und es kommt darüber zur geringeren Gelenkbewegung, steifen diese Gelenke ein. Zur Tonusproblematik kommt die Erschwernis der Bewegung durch Kontrakturen noch hinzu.

Die Atemleistung unserer Patienten ist, wie eine eigene kleine Statistik zeigt, mit Zunahme der Krankheitsdauer und insbesondere durch die dauerhafte Benutzung des Rollstuhls gefährdet. Techniken der Atemtherapie kommen zur Anwendung in Ergänzung zu den oben beschriebenen Behandlungskonzepten, von denen gerade die Vojta-Therapie deutlichen Einfluß auf die zentrale Atemsteuerung nimmt.

Eine weitere Überlegung gilt der Gefahr von Druckgeschwüren (Decubitus). Von Entlastungstechniken der gefährdeten Hautpartien bis zur Hilfsmittelberatung wird die Physiotherapie Möglichkeiten erarbeiten, die dem Patienten als Eigentherapie anempfohlen wird.

Zum Abschluß dieses kleinen Beitrags, der versuchte, nur die wichtigsten Aspekte der Physiotherapie bei Multiple Sklerose zu umreißen, möchte ich noch einmal auf die Ergebnisse der Forscher in der Neurorehabilitation eingehen. Die wichtigste Erkenntnis für unsere Patienten ist wohl die, dass alle Anpassungsvorgänge im ZNS - auch und insbesondere die nach einer Erkrankung - nur durch die Aktivierung der Patienten in Gang kommen und optimiert werden. So ist das Verbleiben in einer Aktivität, nicht nur in der Therapie sondern auch und gerade im Alltag des Patienten ein äußerst wichtiger Faktor für die Stabilisierung seines Leistungsvermögens.

Klaus Gusowski, Leitender Krankengymnast, Neurologisches Rehabilitationszentrum Quellenhof

Redaktion: AMSEL e.V., 10.12.2002