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Neues Stufentherapieschema zur Multiplen Sklerose

In den im April überarbeiteten Leitlinien finden sich Therapieinformationen zu neuen Wirkstoffen und ein aktualisiertes Stufentherapieschema zur MS. Prof. Dr. med. Horst Wiethölter stellt in Together 02/14 die Neuerungen vor.

Leitlinien sind wissenschaftlich fundierte, praxisorientierte Handlungsempfehlungen für Ärzte, die regelmäßig aktualisiert und auf den neuesten Wissensstand gebracht werden müssen. Für Neurologen sind im April die "Leitlinien zu Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose" veröffentlicht worden, die im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) federführend von Experten des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) in Abstimmung mit dem Ärztlichen Beirat des DMSG-Bundesverbands aktualisiert worden sind.

In der Aktualisierung finden sich Empfehlungen zur Therapie der MS nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen im Rahmen eines angepassten, weiterentwickelten Stufentherapieschemas. Es greift die neu zugelassenen Wirkstoffe Alemtuzumab, Dimethylfumarat und Teriflunomid auf, sowie neue Erkenntnisse über bestehende Therapieoptionen. Im Vergleich mit der Vorläuferfassung von 2012 sind in den aktuellen Leitlinien die grundsätzliche Unterscheidung zwischen akuter Schubtherapie und verlaufsmodifizierender Therapie sowie die Zuordnung zu den Verlaufsstadien CIS = klinisch isoliertes Syndrom; RRMS = schubförmig remittierende (mit Rückbildung) MS; SPMS = sekundär chronisch progredient verlaufende MS, mit oder ohne aufgesetzte Schübe, gleich geblieben.

Unterscheidung nach milder/moderater und (hoch-)aktiver Verlaufsform

Neu ist dagegen die Einteilung der Therapieoptionen bei MS. Statt der bisher üblichen Unterscheidung zwischen Basis- und Eskalationstherapie wird die so genannte verlaufsmodifizierende Therapie einer milden/moderaten oder (hoch-)aktiven Verlaufsform der MS zugeordnet. Für die RRMS gibt es verschiedene Therapeutika der 1., 2. und 3. Wahl (s. Abb.). Die Neugliederung der Therapieeinteilung wurde möglich, weil Zulassungsbehörden in der letzten Zeit weniger strikte Vorgaben für die Umstellung auf hochwirksame Therapeutika gemacht haben. Durch diese Lockerung hat der behandelnde Arzt eine größere, dem individuellen Krankheitsverlauf angemessene Entscheidungsfreiheit bei der Auswahl des jeweiligen Medikaments. So kann er beispielsweise bei einer (hoch-)aktiven MS von Anfang an mit Wirkstoffen behandeln, die bisher allein für die Eskalationstherapie (d.h. in der Regel erst nach Versagen einer Basistherapie) zugelassen waren. Bei der milden/moderaten Verlaufsform sind die bisherigen Basistherapeutika, ergänzt um die neu zugelassenen Wirkstoffe, weiterhin Mittel der 1. Wahl. Denn in zahlreichen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass Krankheitsaktivität nicht nur das Auftreten von Schüben bedeutet. Auch am Fortschreiten der Erkrankung (durch EDSS oder ähnliche Messformen nachweisbar) oder anhand der MRT-Aktivität zeigt sich Krankheitsaktivität, die bei der Einschätzung der Behandlungsnotwendigkeit eine wichtige Rolle spielen kann.

Von den neuen Substanzen, mit Ausnahme von Alemtuzumab, fehlen wissenschaftlich belegbare, direkt vergleichende Daten zu ihrer Wirksamkeit miteinander und im Vergleich mit den etablierten Immuntherapeutika. Alemtuzumab wurde im Vergleich mit Interferon beta (hochdosiert) getestet und war in den meisten Endpunkten signifikant überlegen. Allerdings waren die Gruppen nicht eindeutig verblindet, sodass auch von dieser Studie keine eindeutig gesicherte signifikante Überlegenheit gegenüber dem getesteten Interferon belegt werden konnte. Trotzdem erlauben die Ergebnisse, Alemtuzumab bei der Behandlung (hoch-)aktiver Verlaufsformen einzusetzen.

Die drei neuen Medikamente, die in den vergangenen Monaten für die Therapie der MS zugelassen und verfügbar gemacht worden sind und in das neue Stufenschema eingegliedert wurden, sind: Dimethylfumarat und Teriflunomid für die milde/moderate Verlaufsform der MS und Alemtuzumab für die (hoch-)aktive MS.
Dimethylfumarat (Tecfidera®) ist ein orales Basistherapeutikum (2 x 240 mg Tabl. / Tag) mit guter Wirkung auf die Schubrate aber auch die Krankheitsprogression (Fortschreiten der Erkrankung). Es ist für die schubförmig remittierende MS bei Erwachsenen zugelassen. Insbesondere bei Therapiebeginn können Symptome im Magen-Darmbereich (Durchfälle, Bauchschmerzen) oder Flushphänomene (plötzliches Erröten) auftreten. Regelmäßige Blutuntersuchungen sind auch bei Langzeiteinnahme notwendig. Die Langzeitsicherheit ist – allerdings bei dem Vorläuferpräparat zur Behandlung der Schuppenflechte – sehr gut gewesen.
Teriflunomid (Aubagio®) ist eine Tablette (14 mg), die einmal täglich eingenommen werden muss. Sie ist zur Behandlung der schubförmig verlaufenden MS bei Erwachsenen zugelassen. Teriflunomid ist eine wirksame Substanz, die gleich gut wie die Vergleichssubstanz (IFN beta 1a Hochdosis) die Schubrate verringern konnte. Von der Vorläufersubstanz kennt man ein sehr gutes Sicherheitsprofil. Nebenwirkungen sind Infektionen, vorübergehende Haarausdünnung, Erhöhung der Leberwerte, Blutdruckerhöhungen, vor allem aber besteht eine potentielle Teratogenität (Möglichkeit der Fehlbildung beim Embryo). Die lange Verweildauer im Körper bei nur sehr langsamer Ausscheidung macht eine konsequente Beobachtung, Kontrolle und sichere Schwangerschaftsverhütung notwendig.
Alemtuzumab (Lemtrada®) ist ein monoklonaler Antikörper, der innerhalb von wenigen Wochen B- und T-Lymphozyten aus dem Blut entfernt. Mit unterschiedlicher Dauer werden die verschiedenen Lymphozyten-Subpopulationen dann innerhalb weniger Monate bis zu maximal 5 Jahren wieder neu gebildet. Alemtuzumab ist eine hochaktive Substanz und überzeugend wirksam besonders bei hochaktivem Krankheitsverlauf. Es wird als Infusion im 1. Jahr an fünf aufeinander folgenden Tagen zu je 12 mg im 2. Jahr an drei aufeinander folgenden Tagen zu je 12 mg gegeben, kombiniert mit einer entsprechenden Begleitmedikation. Der Therapieeffekt hält über mehrere Jahre an, ohne weitere Infusionen. Hochfrequente Kontrolluntersuchungen sind allerdings notwendig. Nebenwirkungen wie Autoimmunerkrankungen (gegen Blutbestandteile, gegen Niere und Schilddrüse) sind relativ häufig. Sie sind meistens gut zu beherrschen, können aber selten auch mit schwerwiegenden Folgen einhergehen.

Individuelle Wahl des "passenden" Wirkstoffs

Direkte Vergleichsstudien, sog. head- to head-Studien, zwischen den verschiedenen Substanzen wären notwendig, um gesicherte Aussagen darüber machen zu können, ob eine bestimmte Substanz besser als eine andere wirkt. Bis es diese gibt, müssen andere Parameter bei der individuellen Wahl des "passenden" Wirkstoffs helfen. Dazu gehören z.B. Nebenwirkungsprofile, Adhärenzwahrscheinlichkeit (also, ob die vereinbarten Therapieempfehlungen vom Patienten umgesetzt werden = "Therapietreue"), Vorerkrankungen, die nicht unbedingt mit der MS zusammenhängen (z.B. Leberschädigung, Nierenschädigung, Blutbildveränderungen, die eine spezielle Behandlung ausschließen, Kinderwunsch etc.)

Eine weitere Neuerung in den Leitlinien ist die Therapieempfehlung für das klinisch isolierte Syndrom (CIS) und die sekundär chronisch progrediente MS (SPMS). Beim CIS können, außer den oralen, alle bisherigen Basistherapeutika (Interferone und Glatirameracetat) eingesetzt werden, zur Behandlung der SPMS Interferone-ß 1a s.c. und 1b s.c. (wenn es weitere Schubaktivität gibt) und Mitoxantron (auch wenn es keine Schübe mehr gibt). Es gibt zunehmend neue Medikamente, von denen insbesondere die in Tablettenform eine wichtige Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten der schubförmig verlaufenden MS darstellen. Wichtiger denn je ist dabei die Überwachung von Wirkung und Nebenwirkung, die genaue Kenntnis von Gegenanzeigen und möglicher Wechselwirkung mit anderen evtl. zuvor und gleichzeitig eingenommenen Medikamenten. Dies alles geht nur in enger Zusammenarbeit von Arzt und Patient und in Abstimmung von Hausarzt, Neurologen und MS-Spezialisten in Schwerpunktpraxen und MS-Zentren.

Together - Das Nachrichten-Magazin der AMSEL

Quelle: AMSEL-Nachrichtenmagazin 02/14; Prof. Dr. med. Horst Wiethölter, ehemaliger Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik am Bürgerhospital Stuttgart, Vorsitzender der AMSEL und Mitglied des Ärztlichen Beirats der AMSEL

Redaktion: AMSEL e.V., 18.06.2014