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Nachgehakt: Pathologie der Multiplen Sklerose

AMSEL.DE nahm die aktuellen Forschungsergebnisse zum Anlass, nachzufragen. Demnach verläuft die Primär Progrediente MS ähnlich wie eine schubförmige, nur mit sehr viel milderer Schubphase.

In einem aktuellen Paper - AMSEL.DE hatte berichtet - zeigte das Forscherteam um Hans Lassmann erstmals, dass die Multiple Sklerose aus zwei Faktoren besteht – und zwar dass der Entzündungsprozess von Anfang an und bis zum Ende als "treibende Kraft" fungiert und dass in der so genannten progredienten, späteren Phase neurodegenerative Prozesse dazukommen, die das Gehirn schädigen.

Im späteren Stadium der Erkrankung werden hiernach "Amplifikationsmechanismen" in Gang gesetzt: Die Schädigungen werden dabei vervielfacht (amplifiziert) – und zwar als Kreislauf "in sich selbst", der immer weiter geht. Durch die neurodegenerativen Schäden im Gehirn werden Mikrogliazellen aktiviert, die ebenso die Erkrankung vorantreiben wie die Bildung von Sauerstoffradikalen, die Lipide und Proteine im Gehirn zerstören. Gleichzeitig kommt es zur Schädigung von Mitochondrien, den Kraftwerken und Energiespendern der Zellen im Gehirn. Dadurch – und durch die normale Gehirnalterung und die damit verbundene Eisenablagerung – kommt es ebenfalls zu weiteren Schädigungen.

AMSEL.DE hat bei Prof. Lassman, dem Leiter der Abteilung für Neuroimmunologie der MedUni Wien, nachgefragt:

1. Was ist mit der PPMS – existiert dieser Verlauf Ihrer Theorie nach
gar nicht oder muss man ihn gesondert betrachten ?

Prof. Hans Lassmann: Aus unserer Sicht ist die PPMS sicher keine eigenständige Erkrankungsform. Patienten mit PPMS zeigen im wesentlichen dieselbe Pathologie wie solche mit SPMS. Es gibt aber quantitative Unterschiede: Zahl und Größe der fokalen Läsionen in der weißen Substanz ist kleiner als bei Patienten mit SPMS. Zusätzlich finden sich klassische aktive Herde mit Blut-Hirn-Schranken-Störung (Gd-Enhancement) deutlich seltener. Die Pathologie und das Ausmaß der kortikalen Entmarkungsläsionen und der diffusen Schädigung der normalen grauen und weißen Substanz sind bei PPMS und SPMS sehr ähnlich. Wir glauben daher, dass bei der MS zwei Prozesse parallel ablaufen.

a) Die Bildung neuer Herde im Marklager, die durch den plötzlichen Einstrom von Entzündungszellen aus dem Blut eingeleitet wird. Dieser Prozess findet vor allem im frühen Stadium der Erkrankung (im schubförmigen Stadium) statt.

b) Ein langsamer und diffuser Einstrom sowie die lokale Vermehrung von Entzündungszellen in den Meningen und im gesamten Hirn und Rückenmark, der dann für die langsam progrediente Schädigung (kortikale Herde, langsam expandierende Herde in der weißen Substanz und diffuse Schädigung in der normalen weißen und grauen Substanz) verantwortlich ist und besonders ausgeprägt im progredienten Stadium gesehen wird. In der PPMS verläuft der unter a) zusammengefasste Prozess in sehr milder Form ab und wird daher nicht in Form von Krankheitsschüben wahrgenommen.

2. Welche Wirkstoffe sind das, die bereits klinisch erprobt werden ?

Gegenwärtig bereits im Stadium der Testung befindliche Therapeutika, die die progrediente MS günstig beeinflussen können sind zum Beispiel BG12, Laquinimod, hochdosiertes Biotin, und verschiedene Na+, K+ und Ca++ Kanalblocker. Ob sie in ihrer Wirksamkeit ausreichen die Progredienz zu verlangsamen und tolerierbare Nebenwirkungen haben, werden wir erst wissen, wenn die klinischen Phase III Studien abgeschlossen sind. Für zukünftige Entwicklungen sind vor allen Therapeutika interessant, die eine mitochondriale Protektion vermitteln können. Dies ist jedoch noch in einem frühen Stadium der Entwicklung.

3. Und: Helfen, wenn die Entzündung andauert, aber später schwächer wird, die für die schubförmige MS zugelassenen Wirkstoffe nicht auch in der schubfreien Phase – nur eben abgemildert ?

Es ist nicht zu erwarten, dass die gegenwärtig eingesetzten anti-entzündlichen Therapien bei Patienten wirken, deren Erkrankung sich in der späten Phase der Progredienz befindet. Das zeigen auch die bisher verfügbaren klinischen Trials. Allerdings scheint ein positiver Effekt bei SPMS Patienten in frühen Stadium der Progredienz aufzutreten, wenn die Progredienz der Erkrankung noch von Schüben überlagert ist oder wenn noch vereinzelt Gd-speichernde Läsionen im MRI gesehen werden.

Vielen Dank für dieses Gespräch, Prof. Lassmann.

Quelle: Lancet Neurology, "Pathological mechanisms in progressive multiple sclerosis.", Lancet Neurol. 2015, Pressemitteilung der MedUni Wien, 09.02.2015.

Redaktion: AMSEL e.V., 18.02.2015