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Musiktherapie in der neurologischen Rehabilitationfür Menschen mit Multipler Sklerose

Neben Entspannung und Ressourcenaktivierung entfaltet Musik auf neuropsychologischer Ebene eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Multiple Sklerose Erkrankte können davon profitieren. "together 04.17 "stellt die Wirkungen und Effekte der Musiktherapie in der neurologischen Rehabilitation dar.

Im Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof sind sowohl langjährig MS-Erkrankte als auch junge, neu diagnostizierte MS-Betroffene in Behandlung. Das musiktherapeutische Gruppenangebot, das seit 2009 das Therapiespektrum der hochqualifizierten Rehabilitationseinrichtung ergänzt, richtet sich demnach an eine sehr heterogene Gruppe von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen. Viele stehen noch mitten im Berufsleben, sie nutzen die medizinische Rehabilitation regelmäßig mit dem Ziel, möglichst lange aktiv am beruflichen und sozialen Leben teilnehmen zu können. Dadurch können sie wiederholt an der Musiktherapie teilnehmen und prozesshaft über viele Jahre therapeutisch begleitet werden.

In diesem Zusammenhang spielt auch das Thema "Achtsamkeit" in den letzten Jahren vermehrt eine Rolle. Viele Betroffene spüren, dass sie in ihrem privaten und beruflichen Alltag nicht ausschließlich nach einem vorgegebenen Leistungsprinzip "funktionieren" können. Zudem gewinnen präventive Maßnahmen zu Hause und am Arbeitsplatz immer mehr an Bedeutung. Hier kann Musik – aktiv oder passiv eingesetzt – eine zentrale Rolle einnehmen.

Individuell erarbeiten Teilnehmer im Gruppengespräch zusammen mit einem Therapeuten Methoden für den Umgang mit stresserzeugenden Faktoren im Alltag. Der Patient wird im Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof im Kontext eines interdisziplinären therapeutischen Teams begleitet, das neben der ärztlichen und pflegerischen Betreuung auch Physio- und Ergotherapie, Logopädie und psychologische Betreuung umfasst.

Als ergänzende Unterstützung können Patienten an der Kunst oder Musiktherapie teilnehmen – als Gruppenangebot mit bis zu sechs Patienten. Während die Kunsttherapie mit verschiedenen gestalterisch-bildenden Materialien wie z.B. Farben oder Ton arbeitet, steht Patienten in der Musiktherapie eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung. Um an der Musiktherapie teilnehmen zu können, ist keine musikalische Vorbildung erforderlich, denn Musiktherapie versteht sich als "der gezielte Einsatz von Musik im Rahmen der therapeutischen Beziehung zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit." (1)

 

"Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen dennoch unmöglich ist."

Viktor Hugo

Ressourcenaktivierung, Stress- und Krisenbewältigung

In der musiktherapeutischen Begleitung von Menschen mit MS wird in der Regel nicht problemorientiert vorgegangen. Vielmehr stehen in der Therapie vor allem die Ressourcen und Stärken des Patienten im Vordergrund.

Dadurch soll der Betroffene erleben und lernen, sich in akuten Belastungssituationen zu behaupten und mit Hilfe der Musik kurzfristig zu entspannen. Wichtig sind aber auch die Entwicklung neuer Anregungen und Ideen, um sich längerfristig körperlich und psychisch zu entlasten. In der musiktherapeutischen Begleitung von Menschen mit Multipler Sklerose umfasst dieses übergeordnete Ziel der Stress-und Krisenbewältigung konkret folgende Inhalte:

  • Erweiterte Förderung der Wahrnehmungsleistungen
    Darunter fallen sowohl Vibrations- und Körperwahrnehmung, als auch audiovisuelles und räumliches Wahrnehmungsvermögen.
  • Erweiterte Förderung der sensomotorischen Hand-Arm-Bein-Funktionen
    Hier wird unter anderem funktional mit diversen Perkussions-und Klanginstrumenten gearbeitet.
  • Ressourcenaktivierung
    Durch kreatives Arbeiten mit musikalischen Mitteln und der dabei
    entstehenden Ideen für die konkrete Umsetzung im Alltag zu Hause, z.B. in Form von Entspannungsübungen mit und zur Musik.
  • Krankheitsbewältigung
    Musik wirkt bei jedem Menschen anders. Das persönliche Erleben des "Selbst-Gestaltens" und der "musikalischen Einflussnahme in der Gruppe" kann eine Stabilisierung des seelischkörperlichen Wohlbefindens zur Folge haben. Unter anderem finden hier auch gesprächstherapeutische
    Methoden ihre Anwendung.

Der britische Musiker John Lennon sang einst in seinem Lied "Beautiful Boy" sinngemäß:

"Leben ist das, was passiert,
während du eifrig dabei bist,
andere Pläne zu machen."

Das Leben ist ein Schatz voller Möglichkeiten

Im Verlauf der Erkrankung wird vielen Betroffenen bewusst, wie kostbar die Zeit ist, in der man sich Träume erfüllen und Pläne auch tatsächlich in die Tat umsetzen kann. Ein Patient schildert: "Das Leben ist ein Schatz voller Möglichkeiten, ich genieße jeden einzelnen Augenblick seit der Diagnose viel bewusster, viel intensiver, kann mich an Kleinigkeiten erfreuen und nehme viele Dinge nicht mehr so furchtbar ernst." Ein anderer fügt hinzu: "Die MS wird ab jetzt immer einen großen Teil meines Alltags beeinflussen; ich lasse aber nicht zu, dass sie mein Leben beherrscht."

Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, müssen viele Betroffene eine oft sehr vielschichtige Entwicklung durchlaufen. Häufig sind sie dabei auf Hilfe von außen angewiesen. Eine solche Unterstützung kann ganz konkret durch Medikamente oder Hilfsmittel wie dem Rollstuhl geschehen. Darüber hinaus ist aber vor allem die therapeutische Begleitung ein wichtiger Schritt, um trotz der MS-Diagnose ganz alltägliche Situationen zu meistern und möglichst lange eine hohe Lebensqualität zu erhalten.

Musiktherapie – aktive Therapieform und veränderndes Erleben

Musiktherapie kann zur Krankheitsbewältigung beitragen und kurz- und längerfristig die Lebensqualität und das Selbstwertgefühl verbessern. (2) Hierbei handelt es sich um eine aktive Therapieform. Das bedeutet, dass die Patienten mit Unterstützung des Therapeuten selbst kreativmusikalisch – also ohne oder nur mit sehr wenigen technischen Vorgaben – tätig werden. Dabei wird darauf geachtet, dass die Patienten keinem Leistungsdruck unterliegen; ihre kreative Arbeit wird weder bewertet noch benotet oder analysiert. Es geht also weniger um ein konkretes Ziel oder eine Methodik, als vielmehr um ein sich veränderndes Erleben während des kreativen Arbeitens mit musikalischen Mitteln. Der Patient stellt sich während der Therapie nicht die Frage: "Was mache ich gerade?", sondern stattdessen: "Wie ergeht es mir in diesem Augenblick während des Musikmachens und Hörens?" und "Hält die Wirkung auch nach Ende der Therapie an?"

Klang-, Vibrations- und Körperwahrnehmungsinstrumente

Das Instrumentarium der Musiktherapie besteht einerseits aus diversen Klanginstrumenten wie mobilen Xylophonen, Metallophonen, Klangbausteinen und Glocken, andererseits aus einer größeren Auswahl perkussiver Instrumente wie verschiedenen Trommeln, die sowohl im Stehen als auch im Sitzen gespielt werden können, und kleineren Rhythmusinstrumenten. Außerdem wird auch mit einem besonderen Therapieinstrument gearbeitet – der "BigBom", die vor allem als Vibrations- und Körperwahrnehmungsinstrument genützt wird.

Dabei sitzen die Patienten während des Spiels auf dieser großen achttönigen Bass-Schlitztrommel, die neben den tiefen Basstönen auch starke Vibrationen erzeugt, die der Spieler über die Berührung zur Trommel aufnimmt und an verschiedenen Stellen im Körper wahrnehmen kann. Je stärker dabei die Schlagimpulse gesetzt werden, desto intensiver ist die Resonanz im Körper spürbar.

Jedes Instrument in der Musiktherapie wurde ganz bewusst in das Therapieangebot aufgenommen, da die jeweilige Handhabung z.B. ganz spezifische Bewegungsabläufe der Hände, Arme und Schultern trainiert oder zur Rumpfstabilisierung beitragen kann. Des Weiteren kann die audiovisuelle und räumliche Wahrnehmung des Patienten zum Trainingsschwerpunkt werden, besonders dann, wenn Gleichgewichts- und visuelle Störungen vorherrschend sind. Da die Instrumente in der Musiktherapie überwiegend aus Naturmaterialien wie Hölzern, Tierfellen, Kakteen, Kürbissen, Perlen u.a. bestehen, wird durch das kreative Arbeiten mit den Händen zusätzlich die sensorische Wahrnehmung – z.B. durch Reibung der Haut über raue Oberflächen – angeregt.

Nicht nur die "BigBom", sondern letztlich alle Instrumente erzeugen beim aktiven Musik machen neben den hörbaren Klängen und Geräuschen auch eine hohe Schwingung in Form von über den Körper spürbarer Vibration oder auch Resonanz, also das "Mitschwingen" des eigenen Körpers. Gerade Patienten, die ihren Körper aufgrund der Erkrankung oft schmerzhaft oder unangenehm empfinden, erleben diese Vibration, die sie zudem durch ihr eigenes Spiel steuern können, als sehr angenehme und mutmachende Abwechslung. Da während des Musikmachens durch Konzentration oder Ablenkung das Zeitgefühl verloren gehen kann, erleben die Patienten häufig sehr eindrücklich, dass ihr größtenteils als schwach und kraftlos wahrgenommener Körper ungeahnte Ressourcen zeigt, sie also letztlich leistungs- bzw. handlungsstärker sind als bisher angenommen.

Ein Patient, der beispielsweise unter normalen Voraussetzungen nur wenige Minuten aufrecht zu Stehen vermag, kann während des Spiels an den Congas die Erfahrung machen, dass er für bis zu 10 Minuten am Stück frei stehen kann. Die Musik nimmt seine Aufmerksamkeit dabei so sehr in Anspruch, dass ihm der Erfolg des freien Stehens oft erst im Nachhinein bewusst wird. Andere Patienten beschreiben besonders eindrücklich das Phänomen, dass sie die Vibrationen der Instrumente während der Musik besonders an Stellen im Körper spüren, die sich aufgrund der MS normalerweise seltsam taub oder pelzig anfühlen.

Verbesserung koordinativer, motorischer und kognitiver Fähigkeiten

Neben der Entspannung und Ressourcenaktivierung entfaltet Musik auf neurophysiologischer Ebene eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Zahlreiche wissenschaftliche Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass Musik nicht nur ein Areal im Gehirn anspricht, sondern viele
unterschiedliche Bereiche im Gehirn aktiviert. (3) So können Patienten vor allem durch das rhythmische Arbeiten an den Instrumenten sowohl ihre rechts-links-Koordination der Arme und Hände, die Beweglichkeit als auch die Kraft nachhaltig fördern. Außerdem kann das aktive Musik machen auch die Aufmerksamkeit und Konzentration positiv beeinflussen, da man sich intensiv mit einer konkreten musikalischen Tätigkeit befasst. (4)

Barbara Weinzierl, Diplom-Musiktherapeutin

Seit Mai 2009: freiberuflich tätig in verschiedenen Institutionen in Karlsruhe, Baden-Baden und Bad Wildbad mit Schwerpunkt auf musiktherapeutischer Arbeit mit Menschen mit Demenz sowie musiktherapeutischer Arbeit in der neurologischen Rehabilitation.

  • 2009: Diplomabschluss im Zusatzstudiengang für Musiktherapie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; bereits während des Studiums zahlreiche Erfahrungen vor allem in der musiktherapeutischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und Demenz sowie mit Kindern.
  • Von März bis September 2008:
    Initiatorin und Leiterin des interdisziplinären Projektes "Mit Musik für die Seele sorgen" auf Kinderstationen eines Akutkrankenhauses in Münster
  • 2007: Abschluss des Lehramtsstudiums mit 1. Staatsexamen an der Universität Augsburg für Sekundarstufe I in den Haupt fächern Musik und katholische Religionslehre.

Entspannung und Freude durch Musik und kreatives Schaffen

Andererseits zeigt Musik auch eine entspannende und beruhigende Wirkung. So erklärt sich, dass wir beim kreativen musikalischen Arbeiten häufig unsere Sorgen und belastenden Gedanken kurz oder auch langfristig ausblenden können. Nicht nur die Muskeln entspannen sich, auch die Atmung wird ruhiger. Musik kann die Stimmung aufhellen: Wir sind bei guter Laune. Das Erleben des kreativen Schaffens in der Gruppe dient nicht zuletzt dazu, Kontakte zu anderen Patienten zu knüpfen und gemeinsam an etwas Positivem zu arbeiten. Dieses Gruppengefühl wird von den Patienten zumeist als sehr ermutigend und bekräftigend beschrieben. Vielfach kommt die Rückmeldung, dass Patienten sich nach der Therapie psychisch und physisch erholt fühlen und das kreative Arbeiten dazu beigetragen hat, die Lebensqualität zu verbessern. Nicht selten können Patienten die erlebten und erlernten Impulse aus Musik und Gespräch in der Therapie auch mit in
ihren Alltag nach dem Reha-Aufenthalt nehmen. Wenn sie sich nach einigen Jahren wieder im Quellenhof einfinden, zeigt das Erlebte und die positive Erfahrung mit Musik und kreativem Schaffen häufig immer noch Wirkung.

Der Frontman der britischen Rockgruppe Coldplay, Chris Martin, hat einmal über seinen Song "Viva la vida" (übersetzt: "Es lebe das Leben”) sinngemäß
Folgendes gesagt:

"Manche Menschen müssen
unglaublich viele Schmerzen
ertragen und dann beginnen sie
kreativ zu arbeiten, mit dem Ziel
‚Es lebe das Leben’ – viva la vida.
Diese kühne Verwegenheit
ist nur zu bewundern!"

In diesem Sinne soll Musiktherapie dazu beitragen, dass Betroffene trotz der Herausforderungen, die die Multiple Sklerose mit sich bringen kann, aktiv am Leben teilhaben und ihre noch vorhandenen, gesunden Strukturen und Ressourcen bewahren. Dadurch können sie die nötige Flexibilität entwickeln, sich den stetigen Veränderungen anzupassen und sie letzten Endes sogar selbst mitzugestalten.

Quelle: AMSEL-Nachrichtenmagazin "together 04.17"; Barabara Weinzierl, Diplom-Musiktherapeutin
Redaktion: AMSEL e.V. Quellenangaben:

(1) Definition der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft, siehe auf der Homepage unter: http://www.musiktherapie.de/musiktherapie/definition.html, Stand: 05, 2017
(2) Siehe weiterführende Literatur: Hans-Helmut Decker-Voigt, Eckhard Weymann: Aus der Seele gespielt. Eine Einführung in Musiktherapie, Goldmann Verlag, 1991.
(3) Weiterführende Literatur z.B.: Manfred Spitzer: Musik im Kopf, 3. Auflage, Schattauer Verlag, 2002
(4) Siehe weiterführende Literatur mit Studien: Michael Thaut: Rhythm, Music, and the Brain: Scientific Foundations and Clinical Applications, Taylor & Francis Verlag, 2007

 

Redaktion: AMSEL e.V., 30.01.2018