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Multiple Sklerose im Kinder- und Jugendalter

Die pädiatrische MS erfordert Früherkennung, rechtzeitiges therapeutisches Handeln und ein gutes Zusammenspiel aller Beteiligten

Die meisten Menschen mit Multipler Sklerose (MS) erhalten ihre Diagnose zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr. Drei bis fünf Prozent aller MS-Erkrankten sind jedoch unter 18 Jahre alt. Das stellt die betroffenen Familien und Heranwachsenden vor besondere Herausforderungen. Aber es stehen vielfältige Therapien zur Verfügung und eine engmaschige, multidisziplinäre Begleitung kann Risiken vermindern und den Übergang in ein selbstbestimmtes Erwachsenenleben mit MS vorbereiten.

Prof. Dr. med. Kevin Rostásy stellt die wichtigsten Aspekte der Diagnostik und Therapie der pädiatrischen MS vor, basierend auf der S1-Leitlinie: „Pädiatrische Multiple Sklerose“, die auch Teil der aktuellen Leitlinie der DGN zur Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose ist.

Fast ausschließlich schubförmiger Verlauf

Von hundert jungen Menschen, bei denen eine MS diagnostiziert wird, sind rund 90 im Jugendalter. Liegt das Alter bei der Diagnose unter zehn Jahren spricht man von der sehr seltenen „kindlichen MS“. Diese tritt bei Jungen und Mädchen gleichermaßen häufig auf, während die MS ab der Pubertät (juvenile MS) Mädchen und Jungen im Verhältnis 3:1 betrifft – vergleichbar zu den Erwachsenen. Grundsätzlich gleicht die MS im Kindes- und Jugendalter der im Erwachsenenalter, allerdings gibt es altersabhängige Besonderheiten bei der klinischen Symptomatik, bei Verlauf und Therapie.

Bei fast allen Kindern und Jugendlichen verläuft die pädiatrische MS schubförmig, mit beschwerdefreien Intervallen zwischen den Schüben. Bei circa 50 Prozent der unter 18-Jährigen liegt eine hochaktive Form der MS vor. Das heißt, es gibt häufige Schübe und in der Magnetresonanztomografie sind überdurchschnittlich viele Läsionen nachweisbar. Gleichzeitig aber erholen sich Kinder und Jugendliche oft schneller und vollständiger nach einem Schub.

Kinder früher von Einschränkungen betroffen

Die Zunahme des Behinderungsgrades bei der pädiatrischen MS schreitet langsamer voran als bei Erwachsenen, aber der frühe Krankheitsbeginn bedingt, dass Kinder und Jugendliche mit MS circa zehn bis 15 Jahre früher als Erwachsene eine sekundär progrediente MS entwickeln können. Somit können sie eher von Einschränkungen betroffen sein als Menschen, die im Erwachsenenalter an MS erkranken. Das kann nachteilige Auswirkungen auf ihre berufliche Perspektive haben und die Familienplanung erschweren. Hier gilt es, ein besonderes Augenmerk auf die soziale und psychologische Beratung zu legen und alle Parteien – Ärzte- und Therapeutenteam, Familie, Schule, Ausbildungsbetriebe – rechtzeitig mit ins Boot zu holen.

Unspezifische Symptome und schwierige Diagnose

Die ersten Symptome bei Kindern sind oft Sehnerventzündungen mit verschwommenem Sehen und Augenbewegungsschmerzen oder andere visuelle Störungen wie Doppelbilder. Häufiger als bei Erwachsenen liegt eine Mehrfachsymptomatik vor, zum Beispiel mit gleichzeitiger Armschwäche, Gefühlsstörungen in den Beinen oder Koordinationsproblemen. Insbesondere Kinder unter zehn Jahren sind davon betroffen, inklusive „untypischer“ Beschwerden wie Bewusstseinsstörungen oder Krampfanfällen. Auch unspezifische MS-Symptome wie Müdigkeit oder Kopfschmerzen können selten mal als Vorboten auftreten und werden oft zunächst anderen Ursachen zugeschrieben und nicht als MS-Anzeichen erkannt.

Die besondere Herausforderung bei der Diagnose von Kindern liegt zudem in deren Schwierigkeit, sich präzise auszudrücken und Symptome zu beschreiben. „Da ist etwas komisch“ würde der erwachsene Patient vielleicht mit Taubheits- oder Kribbelgefühl konkretisieren können. Bis zu 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen mit MS haben kognitive Probleme, Depressionen und/oder Fatigue – mit Auswirkungen auf die schulischen Leistungen.

Wichtige Merkmale der kindlichen MS

McDonald-Kriterien auch bei Kindern anwendbar

Im Falle einer Verdachtsdiagnose werden auch bei Kindern – entsprechend den Erwachsenen – die McDonald-Kriterien von 2017 angewendet. Zusätzlich zu den Ergebnissen einer Kernspintomografie von Gehirn- und Rückenmark sowie einer Lumbalpunktion geht es auch darum, mit einer Blutuntersuchung infektiöse oder ererbte Stoffwechselstörungen auszuschließen, die typischerweise in dem Alter auftreten können. So verursacht zum Beispiel die Akute Disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) ähnliche
Symptome wie die MS bei Kindern unter zehn Jahren. Weitere  untersuchungsmöglichkeiten bei der Diagnosefindung sind Sehtests und visuell evozierte Potentiale zur Messung elektrischer Leitfähigkeit der Sehnerven.

Forschung zu den Ursachen von MS

Wie bei Erwachsenen sind die Ursachen für die Entstehung der pädiatrischen MS nicht genau geklärt. Allerdings hat die Forschung in den letzten Jahren wichtige Fortschritte gemacht. Schaut man sich neu diagnostizierte Kinder an, ist man viel näher an der Entstehung der MS als bei Erwachsenen, bei denen man nie genau weiß, wieviel Zeit vor der eigentlichen Diagnose diese bereits erkrankt waren. Das Team in der Neuropädiatrie
der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln versucht herauszufinden, welche Befunde bei Kindern mit Verdacht auf MS den weiteren Verlauf vorhersagen können. In Zusammenarbeit mit der Virologie der Universitätsklinik in Wien werden dafür unter anderem verschiedene genetische und immunologische Faktoren auf ihre Bedeutung hin untersucht.

Beeinflussende Faktoren

MS ist nicht vererbbar, allerdings lässt sich eine leichte Tendenz bei familiärer Vorbelastung mit MS beobachten. Neuere Studien zeigen, dass zum Beispiel das Epstein-
Barr-Virus (EBV) bei der Auslösung von MS eine Rolle spielt. So fanden sich bei  pädiatrischen MS-Erkrankten häufiger Antikörper gegen EBV als bei gesunden Kindern.
Ein niedriger Vitamin-D-Spiegel und Passivrauchen werden ebenfalls als negative Einflüsse betrachtet, die die Entstehung einer MS im Kindesalter begünstigen können. Bekannt ist auch, dass bestimmte Faktoren den Verlauf einer bereits bestehenden pädiatrischen MS negativ beeinflussen können. So haben etwa an MS erkrankte Kinder mit Adipositas eine schlechtere Prognose als ihre normalgewichtigen Altersgenossen. Stress und Rauchen
gelten ebenfalls als Beschleuniger für das Fortschreiten der Erkrankung. Umgekehrt gilt aber auch: Eine gesunde, abwechslungsreiche Ernährung, ausreichend Vitamin D, viel Bewegung sowie ein gutes soziales Umfeld wirken sich positiv auf den Krankheitsverlauf aus.

Medikamentöse Therapie

Es gibt derzeit nur wenige kontrollierte prospektive klinische Studien für die Behandlung der pädiatrischen MS. Die Therapie erfolgt daher weitgehend in Anlehnung an die Leitlinien der MS im Erwachsenenalter, wobei bei Kindern und Jugendlichen verschiedene Besonderheiten zu beachten sind. Generell gilt: Je früher eine verlaufsmodifizierende Therapie bei Kindern und Jugendlichen beginnt, desto besser die Prognose. Zur Behandlung eines akuten Schubs hat sich Methylprednisolon in gewichtsabhängiger Dosierung etabliert. Eine immunmodulatorische Dauertherapie wird in der Regel spätestens nach dem zweiten Schub begonnen. Interferone und auch Glatirameracetat sind zur Behandlung bei mildem MS-Verlauf empfohlen.

Rechtzeitiges Eskalieren beugt Einschränkungen vor

Zeigen sich neue Schübe, MRT-Herde oder liegt ein hochaktiver Verlauf vor, ist eine frühzeitige Eskalation der Therapie sinnvoll. Hier haben sich Fingolimod (Wirksamkeitskategorie 2) und Natalizumab oder Rituximab (Wirksamkeitskategorie 3) bewährt. Ersteres wurde in einem doppelblinden Versuch bei Kindern getestet und ist ab dem Alter von zehn Jahren zugelassen. Zu Natalizumab und Rituximab liegen Ergebnisse aus kleineren Fallserien vor. In der Regel bringt eine Therapie mit diesen Wirkstoffen die Krankheitsaktivität weitgehend zum Stillstand.

Der Einsatz von Medikamenten, die in Deutschland keine Zulassung für jüngere Kinder haben, sollte auf jeden Fall in auf pädiatrische MS spezialisierten Kliniken erfolgen. Häufig gibt es keine Alternative – nicht zu behandeln, käme einer unterlassenen Hilfeleistung
gleich, und eine unbehandelte MS im Kindesalter würde signifikante Behinderungen im Alter nach sich ziehen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit einer
hochaktiven Verlaufsform. Um rechtzeitig eskalieren zu können, sind engmaschige Kontrollen, etwa alle sechs Monate, bei Kindern sinnvoll. In jedem Fall ist auch eine
Zusammenarbeit mit den jeweiligen betreuenden Kinderarztpraxen vor Ort angeraten.

Mit MS erwachsen werden

An MS erkrankte Kinder sind am besten in MS-erfahrenen  kinderneurologischen  Krankenhäusern aufgehoben, in denen die ganzheitliche Betreuung auch den individuellen Blick auf die Lebenssituation, die Familie, den Berufswunsch und das soziale Umfeld richtet. Jugendliche mit MS sollten idealerweise in einer spezialisierten Klinik
betreut werden, die sowohl Minderjährige als auch Erwachsene mit MS behandelt. So ist gewährleistet, dass die Transition, also der Übergang von der Kinder- in die Erwachsenenwelt mit der chronischen Erkrankung MS gelingt. Viele Universitätskliniken (zum Beispiel München, Göttingen, Essen, Freiburg u.a.) kommen dafür in Frage.

Bei älteren Kindern können auch wohnortnahe MSSchwerpunktpraxen eine Alternative sein. Ab dem Alter von 14 Jahren müssen die jungen Menschen schrittweise lernen, Verantwortung für ihre Krankheit und das eigene Leben (mit MS) zu übernehmen. Gleichzeitig haben die Eltern die Aufgabe, das erkrankte Kind loszulassen und zunehmend die Kontrolle abzugeben. Generell ist es ratsam, in Absprache mit den jungen Erkrankten das soziale Umfeld, also Verwandte, Freunde, Lehrpersonal und Trainer, über die Krankheit und ihre Auswirkungen zu informieren, um den Kindern und Jugendlichen ihren
Alltag mit der MS zu erleichtern.

Begleitendes Netzwerk

Aufgrund der Komplexität der MS-Erkrankung ist ein multidisziplinäres Team, bestehend aus Ärzten, Psychologen, Physio- und Ergotherapeuten sowie Sozialpädagogen erforderlich, das bei der pädiatrischen MS behandelt und unterstützt. Neben der medikamentösen Therapie sollte das Augenmerk auf den kognitiven Beeinträchtigungen und der Krankheitsverarbeitung liegen, damit rechtzeitig reagiert werden kann, wenn die schulische Leistung beeinträchtigt wird.

Fatigue und Depressionen können zu Schulausfällen und psychosozialen Problemen führen. Deshalb ist es wichtig, dass die jungen Erkrankten, Angehörige, Freunde oder Lehrkräfte gemeinsam handeln, wenn bestimmte Schwächen auffallen. Mögliche Ansätze sind Fördermaßnahmen, Nachteilsausgleiche, familientherapeutische oder schulpsychologische Beratung. Wichtig: Hilfsmaßnahmen sind immer individuell auf die jeweiligen Beeinträchtigungen abgestimmt. Sie reichen von verlängerter Bearbeitungszeit über eine Vorleseassistenz bis hin zu Anpassungen bei vorgeschriebenen Praktika. Hilfestellung bieten hierfür unter anderem die Integrationsbeauftragten von Schule, Universität oder Ausbildungsbetrieb.

Mit Mut und Zuversicht der MS begegnen

Wenn Menschen bereits im Kindes- und Jugendalter mit einer Diagnose wie der MS konfrontiert werden, stellt das oft eine enorme Herausforderung dar – für die jungen Erkrankten selbst wie auch für die gesamte Familie. Wichtig ist es, sich frühzeitig zu  informieren, sich kompetente Hilfe zu holen und die MS auch im frühen Stadium zu behandeln, um das Fortschreiten der Erkrankung und das Risiko von bleibenden neurologischen Schäden so lange wie möglich zu verzögern. Durch die weitere Erforschung der pädiatrischen MS und die wachsenden Therapiemöglichkeiten verbessern sich die Perspektiven für junge MS-Erkrankte deutlich. Es erfordert Mut, sich der Diagnose MS zu stellen, gerade auch in jungen Jahren. Doch wer aktiv mit seiner
MS umgeht, kann mit dem nötigen Rüstzeug an Wissen selbstbestimmt über sein Leben entscheiden.

Prof. Dr. med Kevin Rostásy, Chefarzt der Neuropädiatrie in der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln und Präsident der European Pediatric Neurology Society (EPNS)

Quelle: together 2.24

Redaktion: AMSEL e.V., 31.07.2024