Erst kürzlich veröffentlichte Daten aus dem Deutschen MS-Register zeigen, dass von 40.428 MS-Kranken ca. 70 % jünger als 55 Jahre, 23 % 55 bis 64 Jahre und 7 % 65 Jahre oder älter waren. In einer ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichten Erhebung des United Kingdom MS-Registers hatten ca. 9 % der MS-Erkrankten spät (im oder nach dem 50. Lebensjahr) einsetzende erste Symptome. Im Vergleich zur MS mit Beginn im (früheren) Erwachsenenalter gab es einen geringeren Anteil an Frauen, einen höheren Anteil an primär progredienter MS, ein höheres Maß an Behinderung bei der Diagnose und einen höheren Anteil an Anfangssymptomen, die das Gehen betrafen. Ferner erhielten die in der Erhebung berücksichtigten Personen seltener hochwirksame krankheitsmodifizierende Therapien und erreichten schneller eine erhebliche Behinderung.
Diagnose der MS im höheren Lebensalter
Die international verwendeten Diagnosekriterien der MS (die sogenannten McDonald-Kriterien) gelten für alle Altersstufen. Ein wichtiger Diagnose-Baustein sind u.a. die Entzündungsherde in der Magnetresonanztomographie (MRT) des Gehirns. Für eine MS-Diagnose müssen auch andere in Frage kommende Diagnosen, sogenannte Differenzialdiagnosen, d.h. Krankheitsbilder, die zu ähnlichen Erscheinungen wie bei der MS führen, in allen Altersstufen beachtet und, soweit möglich und sinnvoll, ausgeschlossen werden. Im Alter stellt dies jedoch eine besondere Herausforderung dar.
So kann die Abgrenzung, v.a. zu Gefäßerkrankungen, beispielsweise die kleinen Blutgefäße im Gehirn betreffend (die sogenannte Mikroangiopathie), problematisch sein. Denn im Alter steigt das Risiko für das Auftreten von Läsionen durch Gefäßerkrankungen – unabhängig von der MS – an. Auch bei einer MRT-Verlaufsuntersuchung muss jeweils beachtet werden, ob es sich um neue MS- oder evtl. gefäßbedingte Läsionen handelt.
Was ist typisch für eine späte MS-Diagnose und was macht die spät einsetzende MS aus?
Beginnt die MS später, sind die Betroffenen häufiger als sonst männlich (Verhältnis Frauen zu Männern bei spät einsetzender MS 2 : 1 statt 3 : 1 bei allen MS-Betroffenen). Die Häufigkeit eines schubförmig-remittierenden Krankheitsverlaufs nimmt ab, die Personen haben häufiger eine primär progrediente MS, zeigen häufiger motorische Beschwerden und erreichen schneller eine Behinderung. Zu den Faktoren für eine schlechtere Prognose gehören ein erhöhtes Vorkommen von Begleiterkrankungen (sogenannte Komorbiditäten) wie Fettstoffwechselstörungen, der seltenere Einsatz und eine geringere Wirksamkeit krankheitsmodifizierender Immuntherapien (s.u.), altersbedingte Abbauprozesse sowie die sogenannte Immunoseneszenz.
Wie verändert sich das Immunsystem im Alter, was bedeutet lmmunoseneszenz?
Unter der Immunoseneszenz versteht man die veränderte Aktivität von Komponenten des angeborenen und erworbenen Immunsystems im Alter. Die Funktion des Immunsystems ist beeinträchtigt, lässt nach, was ein erhöhtes Risiko für Infektionen, aber auch für Krebserkrankungen nach sich zieht. Andererseits ist das Altern auch mit einem gewissen Maß an kontinuierlicher Entzündung verbunden. Gealterte Zellen des Immunsystems bewirken eine kontinuierliche Freisetzung von entzündungsfördernden Botenstoffen und ziehen somit weitere Immunzellen an (das sogenannte Inflammaging). Dies wiederum führt zu Gewebeschäden, aber auch zu einer geringen Regenerationsfähigkeit im Krankheitsprozess.

Therapie der MS im Alter
Die Therapie der MS stützt sich altersunabhängig auf die drei Säulen: Schubtherapie, symptombezogene Therapie sowie krankheitsmodifizierende Immuntherapie. Sie soll idealerweise zu einem kompletten Stillstand der Krankheitsaktivität in Form von Krankheitsschüben, Behinderungszunahme sowie MRT-Aktivität führen. Dieses Ziel wird jedoch leider oft nicht erreicht. Die heute verfügbaren Immuntherapien, die sich in Anwendung, Effektivität und Nebenwirkungsprofil deutlich unterscheiden, können dann die größten Effekte entfalten, wenn Zeichen entzündlicher Krankheitsaktivität, also Schübe und / oder MRT-Aktivität nachweisbar sind. Ältere Menschen mit MS haben jedoch häufig einen chronisch fortschreitenden Krankheitsverlauf, für den nur wenige Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen.
In vielen Zulassungsstudien wurden Probandinnen und Probanden mit einem Alter über 55 Jahren nicht oder aber nur zu einem geringen Anteil eingeschlossen. Daher liegen nur wenige Daten zu Behandlung und zu Effekten, aber auch Nebenwirkungen der verschiedenen krankheitsmodifizierenden Therapien bei MS-Erkrankten über 55 Jahre bzw. keine Daten zu Personen über 65 Jahre vor. Trotz der daher geringen bis zum Teil fehlenden Evidenz für Immuntherapien im Alter aus Zulassungsstudien gibt es kaum Altersbeschränkungen. Der Einsatz von Immuntherapien im Alter stellt daher eine Herausforderung dar.
Studien konnten zeigen, dass es bei der MS im Alter zu weniger Schüben und auch seltener zu aktiven MRT-Läsionen kommt. Diese abnehmende entzündliche Krankheitsaktivität kann dazu führen, dass die Effektivität der vor allem bei entzündlicher Aktivität wirksamen Immuntherapien im Alter ebenfalls abnimmt, wie in mehreren Arbeiten gezeigt werden konnte. In den hierfür ausgewerteten Studien war jedoch die Anzahl der Behandelten mit einem Alter über 50 Jahren gering. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass im Alter die Anfälligkeit für Infektionen erhöht ist. Daher erfordert der Einsatz der derzeit verfügbaren krankheitsmodifizierenden Immuntherapien bei älteren MS-Kranken eine sorgfältige Abwägung des wahrscheinlichen Nutzens gegenüber den Risiken durch die Therapie.
Wichtig zu beachten ist außerdem, dass bei MS-Erkrankten im Alter auch zunehmend andere Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) wie Bluthockdruck, Herzerkrankungen, Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes vorkommen, von denen z.B. Fettstoffwechselstörungen und Übergewicht mit einem schlechteren Verlauf der MS
verbunden sein können. Daneben gibt es MS-Präparate, deren Einsatz bei gewissen Begleiterkrankungen riskanter sein kann und die in einigen Fällen dann auch nicht oder
nur unter strengen Kontrollen zum Einsatz kommen dürfen. Da es im Alter zu Veränderungen kommt, wie der Körper ein Medikament aufnimmt, verteilt, verstoffwechselt und schließlich ausscheidet, ferner wie ein Medikament auf den Körper wirkt, können andere Unverträglichkeiten, Risiken und Nebenwirkungen auftreten. Daher ist eine engmaschigere Überwachung im Alter notwendig.
Trotz all dieser Fakten und Überlegungen ist es sehr wichtig zu betonen, dass der Umstand eines höheren Alters bei Auftreten der Erkrankung nicht dazu führen darf, dass bei einer aktiven MS keine Immuntherapie begonnen wird. Bei aktivem Verlauf der Erkrankung ist eine Immuntherapie unabhängig vom Alter anzuraten, die Auswahl muss neben der Aktivität der Erkrankung oben genannte Aspekte berücksichtigen. Hierbei handelt es sich immer um sehr individuelle Entscheidungen, in die MS-Kranke nach sehr ausführlicher und ggf. wiederholter Aufklärung mit einbezogen werden müssen.
Bei MS-Kranken im Alter mit rein schleichendem Fortschreiten der Behinderung nach schubförmigem Beginn (sekundär progrediente MS), jedoch fehlenden Hinweisen für eine entzündliche Aktivität in Form von Schüben und MRT-Aktivität ist eine Immuntherapie sehr kritisch zu sehen. Zugelassene Therapien stehen in dieser Konstellation nicht zur Verfügung.

Wie lange soll eine Immuntherapie im Alter fortgesetzt werden?
Zur Beendigung einer krankheitsmodifizierenden Immuntherapie im Alter gibt es keine allgemeingültigen Empfehlungen. Aufgrund der oben genannten Aspekte (Nutzen versus Risiken einer Immuntherapie, Besonderheiten im Alter) stellt diese Frage, die in Expertengremien häufig diskutiert wird, eine große Herausforderung dar. Ein wichtiger Aspekt beim Thema Absetzen ist unter anderem, zu welcher Wirksamkeitskategorie die Therapie des Patienten gehört. Die Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen (Herausgeber: Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie) unterscheidet drei Wirksamkeitskategorien gemäß der Reduktion der Schubraten in den Zulassungsstudien (s. Abb.). Je höher die Wirksamkeitskategorie, desto wirksamer war das Präparat in der jeweiligen Studie.
Prinzipiell sind Immuntherapien im Falle einer guten Verträglichkeit und bei Stabilität der MS als Langzeittherapien zu sehen. Unabhängig vom Alter findet sich in der o.g. Leitlinie die Empfehlung, dass bei Personen, die vor Einleiten der Immuntherapie eine geringe Krankheitsaktivität aufwiesen und unter der bisherigen Therapie mit einem Medikament der Wirksamkeitskategorie 1 keine Krankheitsaktivität zeigen, bei entsprechendem Wunsch der oder des Behandelten nach einem Zeitraum von mindestens fünf Jahren eine Therapiepause erwogen werden kann. Eine Therapiepause setzt immer den Wunsch des
Patienten voraus. Der Zeitraum von fünf Jahren ist jedoch nicht durch Studien unterstützt und Patienten müssen aufgeklärt werden, dass es mit dem Absetzen der Therapie wieder zu Krankheitsaktivität kommen kann.
Anders sieht es für MS-Kranke aus, die höher wirksame Präparate der Wirksamkeitskategorie 2 oder 3 erhalten. Vor allem dann, wenn eine hohe Krankheitsaktivität vor Therapiebeginn vorlag. Die Therapiedauer bei Patienten ohne Krankheitsaktivität unter sogenannten S1P-Modulatoren (z.B. Fingolimod), Natalizumab oder B-Zell-Antikörpern muss individuell entschieden werden, da hierzu bisher keine Studien vorliegen. Beim Absetzen einiger Substanzen wie beispielsweise Natalizumab ist
besondere Vorsicht geboten, da häufig eine frühe Rückkehr entzündlicher Aktivität beobachtet wird.
Je nach Wirkmechanismus kann bei höher effektiven Substanzen (Wirksamkeitskategorie 2 oder 3) und langjähriger Krankheitsstabilisierung bei Menschen im höheren Alter ein Wechsel auf eine Therapie der Wirksamkeitskategorie 1 erwogen werden. Hiernach sind engmaschige Kontrollen der Krankheitsaktivität, wie im Übrigen auch nach Absetzen einer Substanz, verpflichtend. Jegliche Entscheidung hinsichtlich einer Therapieunterbrechung
oder einer Präparate-Änderung muss nach ausführlicher Aufklärung der Patienten unter ihrer Einbeziehung getroffen werden.
Die im letzten Jahr veröffentlichte „DISCOMS“-Studie untersuchte MS-Patienten, die mindestens 55 Jahre alt waren und unter einer kontinuierlichen Immuntherapie keinen Schub in den letzten fünf Jahren und keine MRTAktivität in den letzten 3 Jahren gehabt hatten. Mehr als 90 % der Teilnehmer erhielten ein Medikament der Wirksamkeitskategorie 1, d.h. waren unter einer im Vergleich weniger effektiven Immuntherapie ohne Schub- oder MRT-Aktivität. Studienteilnehmer, die die Therapie beendet hatten, zeigten häufiger eine Krankheits-Aktivität als diejenigen, die die Therapie fortgeführt hatten: In einem Zeitraum von zwei Jahren hatten 16 von 131 der Therapieabbrecher und sechs von 128 Teilnehmern in der Gruppe derjenigen, die die Immuntherapie fortführten, entweder einen Schub oder eine neue oder sich vergrößernde MRT-Läsion. Es gibt jedoch auch Studien, die zeigen, dass Personen, die nach einem stabilen Verlauf ihre Therapie abgesetzt hatten, in der Folge nicht vermehrt unter Schüben litten.
Wann eine Therapie im Alter abgesetzt werden sollte, dafür gibt es kein definiertes Alter und auch keinen allgemeinen Konsens. Nach Meinung des Autors dieses Artikels kann dies bei einem stabilen Krankheitsverlauf von über fünf Jahren unter einer Therapie der Wirksamkeitskategorie 1 ab dem etwa 60. Lebensjahr zusammen mit dem Patienten in Betracht gezogen werden. Dieses Alter ist eine nur sehr grobe Orientierung, viele individuelle Faktoren können eine Rolle spielen, die die Entscheidung beeinflussen.
Schlussfolgerung
Die MS im Alter unterscheidet sich von der früher im Erwachsenenalter beginnenden MS und stellt eine Herausforderung unter anderem hinsichtlich der Immuntherapie dar. Hierbei müssen zahlreiche Aspekte wie Krankheitsaktivität, Begleiterkrankungen, aber auch die Immunoseneszenz beachtet werden und Therapieentscheidungen unter Berücksichtigung dieser und weiterer, oben genannter Faktoren getroffen werden.
Autor: Prof. Dr. med. Antonios Bayas, Leitender Oberarzt und stellvertretender Direktor, Leiter der Sektion Klinische Neuroimmunologie, Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie, Universitätsklinikum Augsburg
Redaktion: AMSEL e.V., 05.03.2025