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MS-Forschung: Welche Studienergebnisse sind zurzeit wichtig für Patienten?

01.07.08 - Grundlagenforschung, Therapie und Diagnostik: Prof. Klaus V. Toyka, Vorsitzender des Ärztlichen Beirates der DMSG auf Bundesebene, erläutert im Interview Schwerpunkte.

Die Erforschung der Multiplen Sklerose wird weltweit mit Hochdruck vorangetrieben. Im Jahr 2007 liefen mehr als 130 klinische und vorklinische Studien sowie Hunderte Forschungsprojekte. Sie haben das Ziel, die Ursachen der Multiplen Sklerose zu erklären, der Krankheit vorzubeugen, sie leichter zu diagnostizieren, sie besser behandeln und heilen zu können. Für MS-Erkrankte und andere interessierte Laien ist es nahezu unmöglich, auf dem aktuellen Stand zu bleiben.

Prof. Dr. med. Klaus V. Toyka stellt die wichtigsten Studienergebnisse und Erkenntnisse des Jahres 2007 vor. Prof. Toyka ist Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Würzburg und Vorsitzender des Ärztlichen Beirats des DMSG-Bundesverbandes.

Gibt es ein öffentliches Register, in dem alle weltweiten MS-Studien und Forschungsprojekte aufgeführt sind und ihr aktueller Stand fortgeschrieben wird?

 

Prof. Toyka: Leider nein, obwohl es wünschenswert wäre. Wer sich dafür interessiert, kann die öffentliche Bibliotheksplattform der US-amerikanischen Library of Congress über das Internet anwählen: www. ncbi.nlm.nih.gov/sites/ entrez? db=pubmed und die Stichworte "Multiple Sclerosis + Treatment" eingeben. Dann findet man die bereits publizierten wissenschaftlichen Arbeiten aus der ganzen Welt. Bei der National MS Society (http://www.nationalmssociety. org/research/clinical-trials/index. aspx) findet man auch etwas zu laufenden Projekten, ebenso bei der Infoseite des Nationalen Gesundheitsinstituts der USA NIH (http://clinicaltrials.gov/).


Kurze Hinweise zu aktuellen Studien, die noch nicht abschließend publiziert, aber schon bei Kongressen vorgetragen wurden, finden sich auch hier auf unserer DMSG-Internet-Seite, und natürlich die jeweils letzten Empfehlungen der MSTKG (Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe), die ältere und neuere Studienergebnisse allgemein verständlich und kritisch darlegen.

Worauf liegt der Schwerpunkt der MS-Forschung zurzeit?

Prof. Toyka: Es gibt mehrere Schwerpunkte. Die Grundlagenforschung sucht mit neuesten Techniken wieder nach genetischen Risikofaktoren und dem Einfluss von Umweltfaktoren, insbesondere Virusinfektionen (Ebstein-Barr-Virus und andere).
Auf dem Gebiet der Therapie werden zum Beispiel Wirkstoffe geprüft, welche die Entzündungslawine gar nicht erst ins Rollen kommen lassen sollen. Andererseits sind Substanzen in der Erprobung, die besser als bisher die Heilung, also Regeneration und Remyelinisierung fördern, wenn der Schaden durch zerstörerische Immunzellen, Antikörper, das Komplement und Entzündungsfaktoren bereits eingetreten ist.
Konkret sind das Wirkstoffe, die unsere Blut-Hirnschranke effektiver abdichten, die Aktivierung von B-Zellen unterbinden, damit sie keine Myelin-Antikörper mehr produzieren, oder die Reparatur der zerstörten Nervenfortsätze (Axone) und Markscheiden anregen.
Im Bereich Diagnostik wird nach MS-spezifischen Labortests gesucht, sogenannten Biomarkern, um die Multiple Sklerose sicherer und schneller feststellen zu können.

Viele dieser Forschungen sind noch in der Labor-Phase; es wird
also noch Jahre dauern, bis sie vielleicht dem Patienten zugute kommen. Von welchen Studienergebnissen des vergangenen
Jahres werden Patienten schon bald profitieren können?

Prof. Toyka: Eine Studie befasste sich mit dem Wirkstoff Alemtuzumab, von dem Patienten schon in wenigen Jahren profitieren könnten. Voraussetzung ist aber, dass die ernsten Nebenwirkungen verhindert werden können und dass die jetzt anlaufenden beiden großen internationalen Therapiestudien der Phase III (Zulassungsstudien) wieder so klare positive Ergebnisse zeigen wie die dreijährigen Klinischen Phase-II-Studien.
Die Ergebnisse haben Sobek-Preisträger Prof. Alastair Compston und Alisdair Coles im vergangenen Oktober während des jährlichen Kongresses der ECTRIMS (Europäisches Komitee zur Behandlung und Erforschung der Multiplen Sklerose) vorgestellt. Diese Substanz könnte in unserem Therapie-Eskalierungsschema etwa in oder oberhalb der Reihe Mitoxantron, Natalizumab und Cyclophosphamid stehen.
Alemtuzumab ist ein monoklonaler, gentechnisch hergestellter humanisierter Antikörper gegen ein Lymphozyten-Molekül (CD52), der alle T- und die meisten B-Lymphozyten über Monate zerstört. Eigentlich ist es eine Therapie gegen einen bestimmten bösartigen Lymphkrebs, die aber bei MS erstaunlich stark auf Schubrate und Progression zu wirken scheint.
Der schon länger bekannte monoklonale Antikörper Rituximab (gegen CD20 auf B-Lymphozyten) ist für MS auch in einer Phase-II-Studie als wirksam geprüft worden. Zugleich unterstreichen diese Ergebnisse die Bedeutung von B-Zellen als Antigen-präsentierende und somit auch regulatorisch wirksame Immunzellen und langfristig als Vorläufer der Autoantikörper produzierender Plasmazellen.

Gibt es weitere viel versprechende Wirkstoffe?

Prof. Toyka: Auch Fingolimod, ein erster oral einzunehmender Wirkstoff, hat ein gutes Potenzial. In der MS-Therapie würde er wegen seiner einfachen Einnahme sicher gern angenommen werden. Diese Substanz wirkt auf bestimmte Lymphozyten im Körper dämpfend. Ob es allerdings gleich stark ist oder sogar stärker wirksam als die zugelassenen, injizierbaren Substanzen (Interferon-beta und Glatiramerazetat) bleibt abzuwarten.

Ein weiteres, viel diskutiertes Thema war und ist die Frühtherapie schon vor der endgültigen MS-Diagnose. Gab es auch dazu 2007 neue wichtige Erkenntnisse?

Prof. Toyka: Wir haben jetzt drei Studien zur Wirksamkeit der Interferon-beta-Gruppe und eine zu Glatiramerazetat, die alle positive Effekte bei Frühtherapie zeigen: Der Zeitpunkt bis zur definitiven MS wird um mehrere Monate bis vielleicht wenige Jahre hinausgeschoben, und die Behinderung ist zum Ende der Studie bei denen geringer, die von Anfang an die Substanz bekamen als bei denen, die erst einige Monate Placebo erhalten hatten.
Wir haben aber auch gelernt, dass ein Fortschreiten durch diese Substanzen nicht ganz verhindert wird. Und wir wissen jetzt sicher, dass eine frühe Diagnosestellung und sofort einsetzende Therapie sinnvoll ist, auch um die Gefahr, dass einige wenige "gutartig" verlaufende Fälle vielleicht auch ohne Therapie nicht weiter fortgeschritten wären.
Solange wir keine verlässlichen Biomarker für die Prognose-Einschätzung haben, ist die Frühtherapie bei allen Patienten zu erwägen.

Neue Medikamente basieren letztlich auf den Erkenntnissen der Grundlagenforschung. Gab es hier 2007 herausragende Ergebnisse?

Prof. Toyka: Die Internationale Arbeitsgemeinschaft für Genetik bei MS hat in der bisher größten Studie nach Empfänglichkeits-Genen gesucht und ein paar neue Kandidaten identifiziert. Ein Gen soll sogar mit einem eher gutartigen Verlauf verknüpft sein, ohne dass die möglichen Wirkmechanismen bekannt wären. Die identifizierten Zytokin-Gene sind durchaus plausibel, weil frühe experimentelle Untersuchungen an MS-Modellkrankheiten schon in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf diese wichtigen Botenstoffe hinwiesen. Solche Studien haben zunächst keine praktische Konsequenz.
Nur wenn es gelänge, die Wirkung der assoziierten "positiven" oder "negativen" Gene genauer zu verstehen, könnte man beginnen, die spezifische Aktivität dieser Gene oder deren Genprodukte zu beeinflussen.

Redaktion: AMSEL e.V., 01.07.2008