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MS-Erkrankte trotz Pandemie gut versorgt

Für die Multiple Sklerose gibt es so viele Therapien wie nie zuvor, aber bessert sich auch die Versorgung der MS-Erkrankten, zumal in Zeiten der Pandemie? Die AMSEL-Redaktion sprach mit Prof. Dr. med. Peter Flachenecker über Therapien, die seit Mai gültigen Leitlinien, Covid-19 und eine 3. Impfung.

Herr Prof. Flachenecker, inzwischen sind 20 Präparate mit 16 Wirkstoffen zur krankheitsmodifizierenden Therapie der MS zugelassen. – Was sehen Sie als weitreichendste Entwicklung in den vergangenen Jahren?

Prof. Dr. med. P. Flachenecker: Der größte Erfolg ist sicherlich der, dass die MS in den letzten 25 Jahren zwar nach wie vor nicht heilbar, aber mittlerweile gut behandelbar ist, zumindest im frühen Krankheitsstadium und bei der schubförmigen MS. Die Fülle unterschiedlicher Therapiemöglichkeiten, mit verschiedenen Wirkmechanismen, Wirksamkeitsstärken und Anwendungsformen ermöglicht uns eine echte Auswahl, um die MS stadien- und verlaufsgerecht behandeln zu können und den Bedürfnissen der Betroffenen Rechnung zu tragen.

Heutzutage ist die Diagnose MS eben kein unabänderliches Schicksal mehr, sondern wir haben eine reelle Chance, Schübe zu verhindern, den Behinderungsfortschritt aufzuhalten und neue MRT-Läsionen nicht mehr entstehen zu lassen, also das derzeitige Therapieziel zu erreichen, nämlich „Freiheit von Krankheitsaktivität“.

Und auch für die progrediente Verlaufsform gibt es erste, wissenschaftlich nachgewiesene Behandlungsansätze. Gleiches gilt für die symptomatische Therapie und Rehabilitation, die anerkanntermaßen einen unverzichtbaren Bestandteil im Rahmen des gesamten Behandlungskonzeptes der MS darstellen.

Die veränderte Therapielandschaft hat auch zu einer neuen Einteilung der Mittel bei der schubförmigen MS geführt. Die orientiert sich nun am Wirkungsgrad der einzelnen Wirkstoffe und stuft sie in drei Wirkungsgrade ein. Wie kam es zu der Änderung?

Prof. Dr. med. P. Flachenecker: Die Überarbeitung der Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der MS war lange überfällig – immerhin war die vorherige Leitlinie, 2012 erstellt und letztmalig 2014 überarbeitet, schon lange nicht mehr gültig. In der neuen, seit 10. Mai 2021 im Internet abrufbaren Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (an der im Übrigen erstmals auch 2 Patientenvertreter beteiligt waren) wird das bisherige Behandlungsschema und die Einteilung der Präparate für die „milde/moderate“ und „aktive/hochaktive“ MS verlassen.

Diese Änderung war notwendig geworden, weil die Leitliniengruppe angesichts der Vielzahl der Präparate eine weitere, genauere Abstufung für erforderlich gehalten hatte, zum Anderen aber auch weil die Begrifflichkeiten „mild/moderat“ bzw. „aktiv/hochaktiv“ nur unscharf definiert waren und somit unterschiedlich gehandhabt wurden.

Die neue Leitlinie hat ganz klar zum Ziel, praktische Handlungsempfehlungen zu geben und nicht nur die wissenschaftliche Evidenz widerzugeben. Das sieht übrigens auch die Mehrheit der Neurologinnen und Neurologen so: von diesen gaben 87 % an, dass die neue Leitlinie einen Fortschritt gegenüber der letzten Leitlinie darstellt.

Das Schema versteht sich dabei nicht als Stufenschema, das immer mit Stufe 1, also dem schwächsten Wirkungsrad beginnt, oder?

Prof. Dr. med. P. Flachenecker: Richtig, und gerade dieser Punkt wird oft missverstanden und hat zu reichlich Diskussionsstoff geführt. Wie in der Vergangenheit ist es möglich, die Therapie mit einem schwächer wirksamen, dafür aber langfristig sicherem Medikament zu beginnen und bei weiterhin vorhandener Krankheitsaktivität auf ein stärker wirksames Medikament umzustellen.

Nach wie vor ist es aber auch möglich, bei prognostisch ungünstigen Faktoren gleich mit einem stärker wirksamen Medikament zu behandeln, auch aus der Wirksamkeitskategorie 3, also frühzeitig z. B. einen monoklonalen Antikörper einzusetzen.

Im Gegensatz zu der vorherigen Leitlinie sind jetzt aber „anhaltende Krankheitsaktivität“ und „ungünstige Prognosefaktoren“ klar und eindeutig benannt.

Sehen Sie die MS-Patienten und auch speziell Ihre MS-Patienten trotz der Corona-Pandemie gut versorgt?

Prof. Dr. med. P. Flachenecker: Zu Beginn der Pandemie im letzten Frühjahr herrschte noch große Verunsicherung und viele Fragen waren nicht gelöst: Können die Immuntherapien fortgesetzt werden? Welche Therapien sind sicher, welche nicht? Kann eine Neueinstellung auf ein hochwirksames Medikament, das die Immunantworten unterdrückt, ohne Risiko erfolgen? Mittlerweile haben wir viel gelernt und können diese Fragen beantworten: weder stellen die MS an sich noch die Immuntherapien ein besonders Risiko dar, schwer an COVID-19 zu erkranken, und somit können die Therapien wieder wie zuvor eingesetzt werden.

Ein anderes Thema ist die symptomatische Therapie, und insbesondere die Physiotherapie und die Rehabilitation. Nicht wenige MS-Betroffene haben aus Angst vor einer Ansteckung keine Physiotherapie mehr gemacht und auch ihre Reha-Maßnahme verschoben, und nicht wenige bemerken nun, dass sich dadurch die bestehenden Beschwerden zum Teil erheblich verschlimmert haben. In der Zwischenzeit hat sich aber die Versorgung wieder weitgehend normalisiert. Auch im „Quellenhof“ läuft der Reha-Betrieb zunehmend „normaler“, wenngleich weiterhin besondere Hygienemaßnahmen, Abstandsregeln, Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen und reduzierte Gruppenkapazitäten den Klinikalltag bestimmen.

Abschließende Frage: Was ist mit einer dritten Impfung gegen Corona: Wird die Ihrer Meinung nach kommen und  wenn ja, für wen?

Prof. Dr. med. P. Flachenecker: Ja, sicherlich. Gerade hat die europäische Zulassungsbehörde die dritte Impfung für Erwachsene zugelassen, und die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut (STIKO) empfiehlt nach 6 Monaten eine Auffrischimpfung bei besonderen Personengruppen. Dazu gehören nach dem „Epidemiologischen Bulletin“ des RKI Patienten auch MS-Betroffene.

Vor allem Patienten mit einer B-Zell-depletierenden Therapie wie Rituximab, Ocrelizumab oder Ofatumumab sollten sich ein drittes Mal impfen lassen, vorzugsweise mit einem mRNA-Impfstoff. Grundsätzlich würde ich aber auch allen anderen MS-Betroffenen (mit und ohne Immuntherapie) zu einer dritten Impfung raten.

Prof. Dr. med. Peter Flachenecker ist Chefarzt des Neurologischen Rehabilitationszentrums Quellenhof in Bad Wildbad, Vorsitzender des Ärztlichen Beirats von AMSEL e.V. und Vorstandsmitglied im Ärztlichen Beirat des DMSG-Bundesverbands.

Die AMSEL-Redaktion bedankt sich herzlich für das informative Gespräch.

Redaktion: AMSEL e.V., 08.10.2021