Bruton-Tyrosin-Kinase-Hemmer, kurz BTKi, haben ähnlich wie B-Zell-depletierende Wirkstoffe die B-Zellen im Fokus. Jedoch entfernen sie diese nicht aus dem peripheren Blut, sondern berauben sie lediglich mancher Funktionen. Außerdem gelangen die Wirkstoffe im Unterschied zu den zugelassenen B-Zell-Depletierern (derzeit Ocrelizumab, Ofatumumab und - Off-Label - Rituximab) bis ins Zentrale Nervensystem, also genau dorthin, wo sie bei Multipler Sklerose wirken sollen (AMSEL.de und MS-Docblog haben 2021 berichtet).
Derzeit, Anfang März 2022, werden drei BTK-Inhibitoren gegen Multiple Sklerose getestet:
- Evobrutunib ,
- Fenebrutinib und
- Tolebrutinib (bis vor Kurzem noch unter dem Studiennamen SAR442168).
Studien mit BTKi auch bei progredienter MS OHNE Schübe
Während Evobrutunib bei ausdrücklich schubförmigen Verläufen sowie bei RMS getestet wird (zur "aktiven MS" zählen auch progrediente Verläufe, jedoch nur solche, die aktiv sind, die also zum Beispiel Läsionen aufweisen oder aufgesetzte Schübe haben), wird Tolebrutinib seit 2020 auch ausdrücklich in extra Studien bei sekundär progredienten Verlauf ohne Schübe sowie beim primär progredienten Verlauf getestet. Fenebrutinib wird bei aktiver MS und ausdrücklich Primär Progredienter MS getestet. Für die Tolebrutinib-Studien bei Primär Progredienter MS (PPMS) und Sekundär Progredienter MS (SPMS) ohne Schübe werden derzeit laut ClinicalTrials.gov noch Teilnehmer rekrutiert. Ebenso werden noch Teilnehmer für eine Vergleichsstudie von Fenebrutinib-Ocrelizumab bei Primär Progredienter MS gesucht (ClinicalTrials.gov). Auch Studienzentren in Deutschland nehmen daran teil.
Zu Evobrutinib gibt es aktuell außerdem interessante Ergebnisse mit einem neuen Mausmodell der MS. Das klassische Maus-MS-Modell (EAE) ähnelt eher dem schubförmigen Verlauf. Das neue Tiermodell (pEAE) soll den Sekundär Progredienten Verlauf der humanen MS besser widerspiegeln: Nach einer kurzen aktiven Phase geht dieses Modell in einen progredienten, d. h. fortschreitenden Verlauf der Maus-MS über.
Mausmodell pEAE für progrediente MS
Ähnlich wie beim Menschen mit Multipler Sklerose zeigt das Mausmodell auch einen Anstieg der B-Zellen und von Entzündungen in den Hirnhäuten (Meringen). Weitere Ähnlichkeit: B-Zellen zeigen dort hohe Konzentrationen eines Proteins namens Bruton-Tyrosinkinase (BTK), das für die B-Zell-Aktivierung wichtig ist. Und genau dieses Protein sollen die BTKi hemmen.
An diesem pEAE-Modell konnten die Wissenschaftler zeigen, dass Evobrutinib gerade in der progredienten Phase wirksam ist. Das traf sowohl für die prophylaktische Gabe, also vor Ausbruch der Maus-MS, zu als auch für die Gabe während dieser experimentellen Erkrankung. Darüber wurde kürzlich auf der ACTRIMS-Tagung in Florida berichtet.
Die Immunsysteme von Maus und Mensch stimmen nicht zu 100 % überein, dennoch lassen diese Ergebnisse hoffen, dass BTK-Inhibitoren auch bei menschlicher MS und besonders bei progredienten Verläufen helfen können. Für progrediente Verläufe fehlt es bislang noch an stark wirksamen Medikamenten.
Der Hersteller von Tolebrutinib präsentierte außerdem jüngst auf der ACTRIMS-Tagung Ergebnisse aus einem Vergleich mit den anderen beiden BTKi. Den Studien im Reagenzglas sowie an Primaten nach soll Tolebrutunib potenter sein als die beiden anderen Wirkstoffe. Ob sich das in Studien an MS-erkrankten Menschen ebenso nachweisen lässt, muss sich erst zeigen.
BTKi sind orale, selektive, kleinmolekülige Hemmer der Bruton-Tyrosinkinase. Sie werden bereits in der Krebsbehandlung eingesetzt. BTK ist ein "normaler" Stoff, der im menschlichen Körper in "normalen" Leveln vorkommt und dabei hilft, B-Zell-Rezeptor-Signale von außen ins Innere der Zelle zu transportieren. Hemmer dieser Kinase sollen verhindern, dass die Zelle "Bescheid bekommt" (aktiviert wird) und ihrerseits (im ZNS) dafür sorgt, dass körpereigenes Gewebe angriffen wird.
Hoffnung für Menschen mit progredienter MS
Die meisten Studien mit den beiden derzeit untersuchten BTKi sind schon in Phase 3. Prof. Mathias Mäurer berichtete zuletzt auf MS-Docblog über die vielversprechenden Ergebnisse der Phase-II-„Proof-of-Concept“-Studien. Zur möglichen Wirkung bei progredienten Verläufen erklärt der Leiter der Neurologie am Juliusspital Würzburg-Mitte, dass BTK auch Mikrogliazellen aktivieren und damit also diejenigen Zellen im Gehirn, die - so die Vermutung bis heute - für Schäden vornehmlich in der progredienten Phase der Erkrankung sorgen. Ein Wirkstoff, der also nicht die B-Zellen im Blut verringert, sondern bei den B-Zellen vor Ort in Gehirn und Rückenmark ansetzt, könnte gezielter wirken und zudem das Geschehen in der bislang schwer behandelbaren progredienten Phase der MS beeinflussen.
Vor einer möglichen Zulassung müssen alle drei Wirkstoffe neben ihrer Wirksamkeit erst zeigen, welche Nebenwirkungen und Voraussetzungen sie mitbringen. Sehr wünschenswert wäre, wenn die Therapie der progredienten Multiple Sklerose durch sie verbessert werden könnte. Bis zur Zulassung des ersten BTKi gegen Multiple Sklerose werden vermutlich noch mehrere Jahre vergehen. Die Studien für progrediente Verläufe sind teils bis ins Jahr 2028 angelegt; die gegen aktive MS (RMS) enden meist früher.
Quellen: ClinicalTrials.gov zu Evobrutinib, Fenebrutinib und Tolebrutinib, abgerufen am 04.03.2022; ACTRIMS Abstract zum neuen Mausmodell bei Evobrutinib, 25.02.2022; ACTRIMS Abstract zu Tolebrutinib, 24.02.2022; MS-Docblog, 04.05.2020.
Redaktion: AMSEL e.V., 04.03.2022