Frühe Entdeckungen bis heute relevant
Mit der ersten Lumbalpunktion 1913 wird der Grundstein einer modernen Diagnostik gelegt, 1960 ebnet die Entdeckung von Kortison den Weg zur Behandlung von Schüben. 1981 stellen zwei amerikanische Wissenschaftler die Magnetresonanztomografie (MRT) als neues Diagnoseverfahren für die MS vor, das fortan einen genaueren und objektiveren Krankheitsnachweis erlaubt. Ein Durchbruch in der MS-Behandlung gelingt Mitte der 90er-Jahre mit der Zulassung der ersten Beta-Interferone (heute: Interferon-beta 1a, 1b und Peginterferon-beta 1a) für die schubförmig verlaufende MS: Erstmals können nun der Krankheitsverlauf beeinflusst und das Fortschreiten der MS hinausgezögert werden. Bis dahin wurden hierfür nur unspezifische Immunsuppressiva wie Azathioprin oder Chemotherapeutika wie Cyclophosphamid oder Mitoxantron eingesetzt – oftmals mit schweren Nebenwirkungen und unzureichendem Erfolg.
Erfolgreiche Grundlagenforschung und die Blut-Hirn-Schranke
Mit Glatirameracetat wird 1996 ein weiterer Wirkstoff für die Therapie der schubförmigen MS zugelassen. Er greift regulierend ins (fehlgesteuerte) Immunsystem ein und blockiert aggressive Immunzellen. Fast zehn Jahre dauert es, bis 2004 die über Jahre gesammelten Erkenntnisse der Grundlagenforschung einen neuen Behandlungsansatz zulassen: Natalizumab verhindert, dass schädliche T-Zellen über die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn gelangen. Der monoklonale Antikörper ist damit wirksamer als die bis dato verfügbaren Therapien der schubförmigen MS, kann aber auch mit schwerwiegenden Nebenwirkungen bis hin zum Risiko einer lebensbedrohlichen Progressiven Multifokalen Leukoenzephalopathie (PML) einhergehen.
Leitlinien als moderne Entscheidungshilfen
Ende der 90er-Jahre, parallel zum Aufkommen der Interferone, beginnt die Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe Leitlinien für die MS-Therapie zu entwickeln. Sie geben Behandlern und MS-Erkrankten Grundlagen an die Hand, um sich kompetent und patientengerecht für die passende Therapie zu entscheiden. Einige Jahre später übernimmt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) die Aufgabe, die Leitlinien zu Diagnose und Therapie der MS zu überarbeiten und weiterzuentwickeln. Die letzte Aktualisierung, bei der erstmals auch Patientenvertreter an der Ausarbeitung beteiligt sind, erscheint im Mai 2021.
Neues Stufenschema und Therapiedifferenzierung
Bereits mit der Veröffentlichung der ersten Leitlinien wird bei der MS-Behandlung zwischen Basis- und Eskalationstherapie unterschieden. Eine neu diagnostizierte MS wird in der Regel mit einem Basistherapeutikum behandelt, das eine geringere Wirksamkeit, aber eine bessere Verträglichkeit aufweist. Wenn die Basistherapie nicht mehr genügend greift, erfolgt entweder der Wechsel zu einem anderen Medikament innerhalb der Basistherapeutika oder aber der Übergang zur sogenannten Eskalations- oder Intensivtherapie. Die dafür infrage kommenden Wirkstoffe zeichnen sich durch eine höhere Wirksamkeit aus, gehen aber mit stärkeren Nebenwirkungen einher.
Tablette statt Spritze
Einer der wesentlichen Fortschritte in der MS-Therapie ist 2011 die Zulassung der ersten Tablette auf dem Markt der MS-Wirkstoffe. Für viele MS-Erkrankte bedeutet es eine Erleichterung, ihr Medikament oral einzunehmen, statt es zu spritzen. Der oral verabreichte Wirkstoff Fingolimodist noch in zweiter Hinsicht ein Novum auf dem Therapiemarkt: Er ist der erste Vertreter einer neuen Wirkstoffklasse, den S1P-Rezeptor-Modulatoren. Diese binden an die Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptoren auf Lymphozyten und hindern diese somit am Verlassen der Lymphknoten. Zehn Jahre später werden gleich drei weitere Wirkstoffe dieser Kategorie zugelassen: Siponimod, Ozanimod und Ponesimod. Weitere Tabletten kommen 2013 mit dem selektiven Immunsuppressivum Teriflunomid und 2014 mit dem Immunmodulator Dimethylfumarat auf den Markt.
Neue Impulstherapien
In den folgenden Jahren werden eine Reihe weiterer Wirkstoffe zur Behandlung der schubförmigen MS zugelassen, die mit einem neuen Therapiekonzept einhergehen, wie z. B. Alemtuzumab – ebenfalls ein monoklonaler Antikörper – der 2013 das Zeitalter der Impulstherapien einleitet. Das heißt, dass der Wirkstoff, der als intravenöse Infusion verabreicht wird, nicht wie andere Präparate kontinuierlich gegeben werden muss, sondern über einen kurzen Zeitraum konzentriert, mit einer Langzeitwirkung über Jahre. 2017 folgt nach dem gleichen Prinzip Cladribin, das allerdings als Tablette eingenommen wird.
Erstes Mittel für die primär progrediente MS
Obwohl bis heute das Spektrum der Therapien hauptsächlich auf die schubförmige MS abzielt, wird 2018 erstmalig ein Wirkstoff für die Therapie der progredienten MS zugelassen. Ocrelizumab ist, ähnlich wie Alemtuzumab, eine depletierende, also zellvernichtende Therapie. Neu: Er gehört zu den Anti-CD20-Antikörpern, das heißt, er bindet an B-Zellen mit dem CD20-Protein und markiert sie so für das Immunsystem. T-Zellen erkennen diese und können sie abtöten. Nach gleichem Prinzip funktioniert der kürzlich zugelassene Wirkstoff Ofatumumab für die Behandlung der aktiven, schubförmigen MS und das in der Rheumatologie schon lange verwendete Rituximab, das im Einzelfall auch bei der MS eingesetzt wurde.
Mit Siponimod kommt 2020 ein weiterer S1P-Rezeptor-Modulator auf den Markt, der als Tablette für Patienten mit aktiven Verläufen der sekundär progredienten MS zugelassen ist.
Änderung der Therapieziele
Innerhalb der letzten zwanzig Jahre verschiebt sich der Fokus der MS-Therapie. Während zur Hochzeit der Interferon-Behandlungen hauptsächlich die Schubrate verringert werden soll, ist das Ziel heutzutage die Freiheit von Krankheitsaktivität. „No evidence of disease activity“ (NEDA) setzt eine umfassende Krankheitskontrolle voraus und beinhaltet Kriterien wie keinen Schub, keine Behinderungsprogression und keine neuen MRT-Herde.
Das große Portfolio an effektiven Wirkstoffen auf dem Markt ermöglicht es, die MS so zu kontrollieren, dass MS-Erkrankte lange Zeit schub- und symptomfrei bleiben können. Der Weg dahin ist jedoch sehr individuell und es braucht Marker, um vorhersagen zu können, welchen spezifischen Verlauf die jeweilige MS-Erkrankung voraussichtlich nehmen wird.
Für MS-Behandler bedeutet dies, dass nicht zwingend das alte Stufenschema von Basis- und Eskalationstherapie eingehalten werden muss (siehe Therapiedifferenzierung), sondern dass Therapien sich an der Krankheitsaktivität orientieren und bedarfsgerecht eingesetzt werden können. So kommt gegebenenfalls bereits frühzeitig eine hochwirksame Therapie zum Einsatz („hit hard and early“), immer unter Abwägung von
Wirksamkeit und Nebenwirkungen.
Symptomatische Therapie im Fokus
Neben den Therapiezielen erweitert sich im Laufe der Jahre auch das Therapiespektrum, nicht nur das medikamentöse. Die symptomatische Therapie, lange Zeit vernachlässigt angesichts der vielen neuen Medikamente für die schubförmige MS, tritt zunehmend aus ihrem Schattendasein und ist ebenfalls ein wichtiger Baustein der MS-Therapie.
Inzwischen gibt es in diesem Bereich groß angelegte und qualitativ hochwertige Studien, die aktuellen Leitlinien spiegeln deren neuen Stellenwert wider. So konnten die Wirksamkeit des Cannabisextraktes Nabiximols auf MS-bedingte Spastiken und von Fampridin auf die Gehfähigkeit in groß angelegten Studien nachgewiesen werden; beide Substanzen stehen seit 2011 zur symptomatischen Therapie der MS zur Verfügung.
Patienten entscheiden mit
Ein großer Schritt in der MS-Therapie ist auch der Wandel der Patientenrolle. MS-Erkrankte sind heutzutage stärker in die Therapieentscheidung eingebunden. Damit einher geht eine neue Verantwortung, sich zu informieren.
Die MS-Landschaft ist in diesem Zusammenhang ein Vorreiter, was auch an den Spezifika der Krankheit liegt: Sie betrifft in der Regel junge Menschen in einer Phase ihres Lebens, in der viele Weichen gestellt werden. Diese Zielgruppe informiert sich gut und umfassend, unter anderem mittels moderner Medien. AMSEL trägt dieser Tatsache schon früh Rechnung, indem sie ausführlich über Medikamente und ihre Nebenwirkungen aufklärt, bspw. mit der Wissensseite „MS behandeln“.
Wohin geht die Reise?
Die Neurologie ist eines der innovativsten Fächer innerhalb der Medizin. Ob Forschung, wissenschaftliche Erkenntnisse oder Therapiemöglichkeiten – sie ist am Puls der Zeit. Das kommt der MS-Therapie zugute. Wie sehr das Innovationstempo anzieht, zeigt unter anderem die Entwicklung der Diagnosekriterien. Die von 1983 bis 2001 geltenden Poser-Kriterien werden 2001 von den McDonald-Kriterien abgelöst. Diese erleben in der gleichen Zeitspanne eine dreimalige Überarbeitung, zuletzt 2018.
Zwei große Themen stehen auf der zukünftigen Therapie-Agenda: Neue Möglichkeiten, den Verlauf der individuellen MS-Erkrankung noch früher und präziser einschätzen zu können, um frühzeitig mit einer passgenauen Therapie zu beginnen und weitere sowie effektivere Therapiemöglichkeiten für die progrediente MS.
Quelle: together, 01.22
Redaktion: AMSEL e.V., 12.12.2022