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Irrtum: Menschen mit Multipler Sklerose müssten sich schonen

AMSEL räumt auf mit den Irrtümern und Vorurteilen über MS. Heute das Thema: Schonung bei Multipler Sklerose.

Mittlerweile rufen es schon alle Spatzen von den Dächern: Menschen mit Multipler Sklerose müssen sich keineswegs dauerhaft schonen. Im Gegenteil hat sich längst gezeigt, und dies ist auch wissenschaftlich nachgewiesen, dass Sport und Bewegung den Verlauf einer MS positiv beeinflussen können. Die meisten MS-Erkrankten wissen das. Die breite Öffentlichkeit nicht unbedingt.

Es gibt natürlich Einschränkungen...

Bevor nun Missverständnisse aufkommen, sei gleich eingeräumt: Pausen benötigen MS-Betroffene oft mehr als Nicht-Erkrankte und die MS kann Menschen stark einschränken und sogar berufsunfähig machen. Niemand käme auf die Idee, von einem MS-Erkrankten im Rollstuhl die Teilnahme am Iron Man zu erwarten. Aber nicht hinauszugehen, sich keine Ziele zu setzen, zur Couchpotatoe zu mutieren oder ein Leben im "Dauerschongang" zu führen, wäre kontraproduktiv.

Das bedeutet, gerade für Betroffene mit Fatigue: weiterhin öfter Pausen, auch schlafen, aber danach wieder aktiv sein. Eine Ausnahme ist ein akuter Schub. Da verhält es sich ähnlich wie bei einer akuten Infektion. Man merkt selbst, dass der Körper nur noch liegen und ruhen möchte. Und ähnlich ist es auch mit manchen Nebenwirkungen von medikamentösen Therapien, besonders jenen, die grippeähnliche Symptome hervorrufen. Darum nehmen Betroffene diese Medikamente auch gerne abends ein, manchmal sogar in Verbindung mit einem Schmerzmittel, um den Nachtschlaf zu nutzen und so die Nebenwirkungen zu überdauern.

...aber Sport bewegt vieles in unsrem Körper

Genug der Ausnahmen. Warum tut Bewegung Menschen mit Multipler Sklerose so gut? Nun, Bewegung bessert das Allgemeinbefinden. Das hört sich lapidar an, lässt sich jedoch schnell konkretisieren:

  • Unser Kreislauf profitiert von Bewegung. Ohne Bewegung, ohne den Wechsel von Sitzen, Stehen, Gehen und Liegen, kommt er sozusagen "aus der Übung".
  • Ähnliches gilt für Gelenke, Knochen und Muskulatur. Die Gelenke wollen bewegt, Muskeln und Sehnen gedehnt werden. Sonst "rosten" sie "ein". Das gilt natürlich für alle Menschen, auch für Gesunde. Weil aber die Multiple Sklerose selbst oft auch eine Bewegungseinschränkung mit sich bringt, ist es für MS-Betroffene besonders wichtig, hier gegenzusteuern. Doch damit nicht genug.
  • Auch unsere Kognition profitiert von Bewegung. Manche vergleichen das Gehirn mit einem Muskel, der auch trainiert werden möchte. Beim Bewegen trainieren wir Koordination und Balance ganzer Abläufe. Es erklärt sich fast von selbst, dass dies bei Multipler Sklerose, die gerade Koordination und Gleichgewicht einschränken kann, besonders wichtig ist.
  • Ein weiterer Grund: Bewegung, Aktivsein in jeder Form, hebt die Stimmung. Unser Gehirn belohnt uns dafür, dass wir aktiv sind.

„Schonen Sie sich!“ – Diesen Ratschlag hören heute keine Menschen mehr von einem MS-Spezialisten. Mittlerweile berichten nicht nur die Betroffenen selbst davon, wie gut ihnen Bewegung tut - zum Beispiel Micha, die vom Sportmuffel zur begeisterten Nordic-Walkerin mutierte, wie sie im AMSEL-Video berichtet -, sondern es gibt auch eine ganze Anzahl wissenschaftlicher Studien, die den positiven Effekt von Bewegung bei MS belegen.

Sport bei MS: Könnte sogar Hirnatrophie reduzieren

Die Universität Erlangen führte beispielsweise eine Reihe von Studien durch, die den positiven Effekt von Bewegung auf MS zeigen. Bemerkenswert ist, dass vor allem die Fatigue-Betroffenen von Bewegung und leichtem Sport profitieren (AMSEL.DE hat berichtet: "Erste Ergebnisse der Sportstudie MS-intakt"). Erst kürzlich zeigte eine dänisch-deutsche Studie, dass möglicherweise sogar die Hirnatrophie durch körperliches Training reduziert werden kann. Es ist nämlich so, dass beim Menschen im Laufe des Lebens das Hirnwasser-Volumen zunimmt, bei MS-Betroffenen ist diese Zunahme jedoch verstärkt. Das Schlechte daran: Wo mehr Wasser ist, können sich weniger gesunde Gehirnzellen befinden. Die dänisch-deutsche Studie war mit nur 35 Teilnehmern zwar klein, konnte in dieser Gruppe jedoch zeigen, dass Bewegung diese verstärkte Hirnatrophie reduzieren kann (Multiple Sclerosis Journal, 28.07.2017).

Alles schön und gut, mögen manche unter den MS-Betroffenen nun sagen. Ich sitze aber im Rollstuhl, wie soll ich da bitteschön joggen gehen? Oder: Es ist so mühsam für mich, das Haus zu verlassen. Ich würde ja gerne mehr spazieren oder ins Fitnessstudio gehen, aber dazu brauche ich noch mehr Hilfe. Und es ist wahr: Ohne die MS wäre es leichter sich zu bewegen. Da jedoch Bewegung einen so positiven Einfluss auf die Grunderkrankung hat, gibt es eigentlich keinen Grund, es nicht doch zu versuchen.

Man kann es zum Beispiel machen wie Beate Kereit: Die MS-Betroffene sitzt schon geraume Zeit im Rollstuhl, kann kaum 20 Meter zu Fuß gehen. Dass sie dennoch eine gute Rumpfstabilität, genügend Puste und auch Ausdauer hat, führt sie aufs Sitz-Jogging zurück. Wie das geht? Ganz einfach, das kann jeder auf einem Stuhl ausprobieren: Arme anwinkeln und dann abwechselnd möglichst schnell die Pobacken heben. Kleine Warnung: Anfänger kommen leicht aus der Puste. Kereit trainiert so jeden Morgen mindestens 10 Minuten.

Stark eingeschränkt? - Mach' es wie die Profi-Musiker!

Selbst Menschen mit MS, die sehr in ihrer Bewegung eingeschränkt sind, können und sollten weiterhin aktiv bleiben. Stilles Qigong ist eine Möglichkeit, ganz ohne ausladende Bewegungen weiter zu trainieren: indem man sich gedanklich die Bewegungsabläufe vorstellt und eventuell ganz kleine Bewegungen dabei vollzieht. Übrigens eine Methode, die zum Beispiel Profimusiker anwenden. Auf Reisen, im Flieger oder immer dann, wenn sie ihr Instrument nicht bedienen können, stellen sie sich vor, dass sie bestimmte Musikstücke üben würden. Das trainiert auch ohne tatsächliche Bewegung die Koordination. Es ist wichtig für uns, dass die Bewegungsabläufe präsent bleiben. MS-Betroffene können in Gedanken Schritt für Schritt eine Treppe hochgehen, schwimmen oder ein Yogaprogramm absolvieren.

Dazu kommt passives Bewegen, etwa durch einen Physiotherapeuten oder mit einem programmierten Hometrainer, um die Gelenke und Sehnen geschmeidig zu halten. Und bewegungslose jedoch sehr aktive Übungen wie das Stehen am Stehtisch: Hierbei richtet sich der MS-Erkrankte mit fremder Hilfe auf, wird stehend mit Schlaufen arretiert und übt so das unterstützte Stehen und stärkt nebenbei seinen Kreislauf.

Das passende Training finden, eigene Grenzen kennen

Für die meisten Menschen mit Multipler Sklerose geht jedoch noch sehr viel. Es mag mühsamer sein, außer Haus zu gehen, und beipielsweise die Fatigue verhindert bei manchen, dass sie an regelmäßigen fixen Vereinstreffen teilnehmen können, weil die Fatigue genau da öfter einen Strich durch die Rechnung macht. Bewegung in jeglicher Art tut jedoch so gut, dass es sich lohnt, nach den individuell geeigneten Möglichkeiten Ausschau zu halten. Keiner muss einen Marathon anstreben, sondern jeder sollte das Training für sich finden, das ihn fordert und dabei Spaß macht. Dann bleibt man auch am Ball. Denn "Schonung bei MS" - das war gestern!

Egal ob beim Sport, in der Freizeit, im Berufsalltag, bei "dem bisschen" Haushalt oder mit den Kids: Gerade MS-Betroffene sollten natürlich ihre Grenzen (aner-) kennen, sich nicht dauerhaft überfordern. Das würde zu Stress führen und die Lebensqualität senken.

Die AMSEL-Broschüren-Reihe "Sport und Bewegung für Menschen mit MS" sowie die Überblicksbroschüre "MS und Sport" stellen viele Bewegungsmöglichkeiten vor und erklären, für wen sie geeignet sind. Alle Broschüren sind kostenfrei im AMSEL-Shop erhältlich. Nichtmitglieder zahlen eine kleine Gebühr. Wer gezielt die grauen Zellen trainieren möchte, kann online mit MS-Kognition spielerisch Gedächtnis und Konzentration verbessern (kostenfreies Angebot für alle und auch für Nicht-Betroffene interessant).

Redaktion: AMSEL e.V., 08.09.2017