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Immer besser: Diagnose und Therapie für die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern

Den Verlauf einer MS vorhersagen? Wissen, welcher Patient welche Nebenwirkung haben wird? Das individuell beste Medikament für jeden einzelnen finden? - Prof. Dr. Heinz Wiendl, Sobek Forschungspreisträger 2015, berichtet aus seiner „Werkstatt“.

"Was hat die immunologische MS-Forschung für Betroffene Neues gebracht?" – so lautete der Vortragstitel von Prof. Heinz Wiendl bei der diesjährigen Sobek-Feier und genau daran misst sich der Direktor der Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie am Universitätsklinikum Münster auch. Die Zielantigene, gegen die sich die MS richtet, sind noch nicht bekannt. Hier ist noch viel Grundlagenforschung zu leisten.

Was man schon heute kann oder worin man immer besser wird, daran hat auch der Neuroimmunologe aus Münster seinen Anteil: den Krankheitsverlauf zu prognostizieren, mit geeigneten individualisierten Medikamenten gegenzusteuern und die MS-Symptomatik bestmöglich zu managen. Als ehemaliger Preisträger (2015) fasste er auf der diesjährigen Sobek-Preisverleihung in Stuttgart zusammen, was er selbst und andere Forscher in den vergangenen Jahren herausgefunden haben. Sozusagen ein Einblick in die Werkstatt der Immunologen.

Nah am Patienten

Wiendl tendiert weg von einer hypothesenbezogenen Forschung, die möglicherweise den Blick auf unerwartete Einflussfaktoren verstellt, hin zu einer netzwerkbezogenen Forschung, die auch die Peripherie miteinbezieht. Anders als im Mausexperiment, das unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt wird, ist der Mensch vielfältigen Einflüssen aus Genetik und Umweltfaktoren ausgesetzt, die in die Forschung einbezogen werden müssen.

So ließen sich Rückschlüsse auf den Ursprung der MS unter anderem in einer Zwillingsstudie an eineiigen Zwillingen ziehen. Diese brachte CD4-positive Effektor-T-Zellen als Merkmal für das Frühstadium einer MS im betroffenen Zwilling zutage. Eine weitere Studie zum Einfluss von Umweltfaktoren wie Sonnenlicht zeigte, dass Sonnenexposition die MS-Aktivität dämpft, wobei eine halbe Stunde Spazieren pro Tag offensichtlich genügt. Hier wirkt die UV-Strahlung ähnlich wie Interferon (wobei ein Zuviel dieser Strahlung wiederum für alle Menschen schädlich sein kann). Dagegen scheint Vitamin D keine immunologische Auswirkung zu haben.

Ein Forschungsschwerpunkt Wiendls der letzten gut sechs Jahre waren die Wirkmechanismen von Natalizumab, das die Wanderung von Immunzellen, autoreaktiven T-Zellen, ins Zentralnervensystem blockiert und so die Entzündungsprozesse bei MS dämpft. Warum es bei manchen MS-Patienten unter Natalizumab zu schweren Nerveninfektionen als Nebenwirkung und bei Absetzen des Medikaments zu einer überschießenden Immunreaktion kommen kann, bei anderen dagegen nicht, wollten Wiendl und Kollegen genauer wissen, um die Wirkung des monoklonalen Antikörpers besser zu verstehen und so diejenigen Patienten ausfindig zu machen, die ein erhöhtes PML-Risiko aufweisen.

Biomarker helfen bei Diagnose und Therapie

Wiendls Arbeit führt ihn als Arzt und Wissenschaftler immer wieder vom Patientenbett ins Labor und wieder zurück zum Patienten. Von einer Art "Tiefseegang" durch die Immunologie des Patienten spricht er (unter anderem hier im Video anlässlich seines Vortrages auf der Sobek-Preisverleihung 2022) und meint damit, dass er und sein Team sich die Patientendaten kompartementübergreifend anschauen und einzelne Zelltypen sehr genau analysieren.

Hierzu werden zum Beispiel peripheres Blut, Liquor und Hirngewebe von MS-Patienten untersucht und mit statistischen Methoden Risikoprofile erstellt. Wie 2021 in der renommierten Zeitschrift Brain veröffentlicht, konnten Wiendl und weitere Forscher herausfinden, dass fünf zelluläre Parameter unterschiedliche entzündliche Autoimmunerkrankungen charakterisieren. Anhand einer Kombination immunologischer Marker lässt sich eine MS mit 72-prozentiger Wahrscheinlichkeit unabhängig vom MRT-Befund diagnostizieren und von anderen entzündlichen Krankheiten des ZNS abgrenzen. – Das könnte Arzt und Patient in Zukunft einen Vorsprung verschaffen in Fällen, wo MRT, bisherige Liquoranalyse und Klinik keine gesicherte Diagnose zulassen. Früh zu diagnostizieren bedeutet letztlich auch, früh behandeln zu können und damit manchen Schub, manches Symptom und manche Behinderung vermeiden zu können. Oder im negativen Fall: Nicht unnötig eine Therapie beginnen aufgrund einer Fehldiagnose.

Immunologische Subtypen erkennen und individuell behandeln

Ferner ließen sich so vier immunologische Subtypen der MS mit unterschiedlichem Verlauf und Ansprechen auf Therapie im peripheren Blut identifizieren und es ließ sich anhand von Blut- und Nervenwasser erkennen, dass diverse Parameter sich im Verlauf einer Erkrankung ändern, je nachdem, ob man einen Patienten mit CIS bzw. RIS, unter 36 Monate RRMS oder über 36 Monate RRMS vor sich hat. Anhand immunologischer Parameter ließen sich auch Patienten unterscheiden, je nachdem, ob ihre MS in den vier Wochen vor Nervenwasserentnahme aktiv war oder nicht. – Auch wenn größer angelegte Studien erforderlich sind, um Erkrankungen des ZNS sowie deren Verlauf besser zu diagnostizeren: Das ist kostbares Wissen, wenn es darum geht, Patienten eine bestmöglichst auf sie zugeschnittene Therapie zu empfehlen.

In einer ähnlichen Versuchsreihe mit Alemtuzumab konnten Wiendl und Team Biomarker definieren, die eine Prognose über mögliche Nebenwirkungen zulassen. Das ist gut vorab zu wissen: Welcher Patient weitere Autoimmunerkrankungen entwickeln wird und welcher nicht (amsel.de hatte berichtet).

Den Wirkmechanismus von Alemtuzumab vergleicht Wiendl mit einem Computer-Reset: Der Wirkstoff wird ein bis zweimal verabreicht und eliminiert eine Vielzahl von Immunzellen, sodass es idealerweise zu einem Stillstand der MS kommt. 30 bis 50 Prozent der Betroffenen entwickeln dann jedoch eine sekundäre Autoimmunkrankheit, die nur zum Teil gut therapierbar ist.

An der Schwelle zur Anwendung

Das Immunsystem scheint sich in diesem Fall vom Zentralnervensystem abzuwenden und andere körpereigene Systeme anzugreifen. Da Alemtuzumab nicht alle Immunzellen eliminieren kann, deutet alles darauf hin, dass die verbliebenen zu diesem „Überschuss an fehlgeleiteter Energie“ führen.

So fortgeschritten die Erforschung dieser Biomarker schon ist, flächendeckend anwendbar sind die Tests momentan noch nicht, so Wiendl. An der Schwelle vom Experiment zur Anwendung im Patienten bedeuten sie aber einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur individualisierten Medikation und zum optimierten Krankheitsmanagement.

Ein erreichbares Ziel, mehr Sicherheit für Arzt und Patient, und, ganz wichtig: ein Plus an Lebensqualität. Möglich dank Forschern wie Wiendl, die sich das Immunsystem von Patienten genau ansehen. Der Sobek Forschungspreis unterstützt Wissenschaftler wie Wiendl, der 2015 den Sobek Preis erhielt. Anlässlich der Sobek Preisverleihung 2022 in Stuttgart stellte Wiendl als früherer Preisträger – so ist es Tradition bei der Sobek-Feier – seine Arbeit vor und zeigte damit auch, wie er das Preisgeld eingesetzt hat.

Redaktion: AMSEL e.V., 16.09.2022