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Humane endogene Retroviren als Auslöser der Multiplen Sklerose?

Der Neuroimmunologe Prof. Sven Meuth nimmt im Blitzinterview der AMSEL-Onlineredaktion Stellung zur HERV-Hypothese einer Arbeitsgruppe aus Halle.

 

 

Prof. Dr. Dr. Sven Meuth, hier beim AMSEL-Aktionstag 2011 in Stuttgart für junge Menschen mit Multipler Sklerose. Meuth ist Stellv. Direktor und Leitender Oberarzt der Klinik für Allgemeine Neurologie sowie Direktor des Instituts für Translationale Neurologie, Leiter Klinische und experimentelle Forschung der Medizinischen Fakultät Münster. 2010 erhielt er den Sobek-Nachwuchspreis in Stuttgart.

Im Netz kursieren immer wieder neue, teils vielversprechende Informationen zur Multiplen Sklerose. Wissenschaftler aus Halle bezweifeln etwa, dass MS überhaupt eine Autoimmunerkrankung ist und sehen die Ursache in Viren, wie der MDR kürzlich berichtet hat. Und zwar Viren, vielmehr deren Hüllen, die der Mensch im Laufe seiner Evolution in seine DNA mit eingebaut hat, so das Team um Prof. Malte Kornhuber und Holger Cynis. Die Wissenschaftler meinen sogar, dass ihre Theorie auf weitere heute als Autoimmunkrankheiten bezeichnete Krankheitsbilder, z.B. auf Gelenkrheuma, zutreffen könnte.

Die AMSEL-Onlineredaktion befragte den Arzt und Forscher Prof. Dr. Dr. Sven Meuth von der Medizinischen Fakultät Münster zu dem Thema:

  1. Herr Prof. Dr. Dr. Meuth, verschiedene Viren werden (mit) verantwortlich gemacht für die Entstehung der Multiplen Sklerose – was hat es damit auf sich bzw. sind diese Viren alleine schuld am Entstehen einer MS ? Prof. Sven Meuth: Neben der Hypothese der Arbeitsgruppe aus Halle, die sich auf humane endogene Retroviren erstreckt, sind bereits seit langem auch Viren als Mitauslöser einer Multiplen Sklerose im Gespräch. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass neben einer gewissen angeborenen Veranlagung zusätzlich Faktoren von außen hinzukommen müssen, damit es zur Erkrankung Multiple Sklerose kommt. Zu diesen Faktoren zählen Viren, insbesondere das Epstein-Barr-Virus, das zur Gruppe der Herpes-Viren gehört. Weniger klar ist allerdings, wie genau die EBV-Infektion die Erkrankung auslöst und möglicherweise ist der Zeitpunkt einer Infektion entscheidend. Hinzu kommt zusätzlich, dass bei den über 40-jährigen allgemein über 90 % mit EBV Kontakt hatten, also deutlich mehr Menschen serologisch eine EBV-Infektion hatten als Menschen eine MS entwickeln. D.h. die Viren scheinen nicht alleine schuld an der MS zu sein.
  2. Was besagt die Virusthese, wie sie zum Beispiel die Wissenschaftler in Halle vertreten? Prof. Sven Meuth: Die von den Kollegen aus Halle propagierte These endogener humaner Retroviren [kurz: HERV, Anm.d.R.] ist interessant, wird allerdings auch schon seit mehreren Jahren diskutiert. Dazu anzumerken ist Folgendes: Wie in dem MDR-Beitrag dargestellt, sind viele der Viren schon seit vielen Tausenden bis Millionen von Jahren in unser Genom integriert und haben bestimmte für den Menschen wichtige Funktionen. D.h. letztlich ist eine Trennung von primärem "humanen" Genom und in die DNA integrierten Retroviren gar nicht immer eindeutig. Gerade bei den seit sehr langer Zeit integrierten Virusbestandteilen ist davon auszugehen, dass sie im menschlichen Genom sehr verbreitet und damit auch wieder bei fast allen Menschen nachweisbar sind.Die Virushypothese besagt, dass aus Sicht der Hallenser nicht eine Fehl- oder Überfunktion des Immunsystems die Erkrankung auslöst, sondern ursächlich eine Transaktivierung der HERV wiederum möglicherweise durch andere Viren stattfindet und dadurch erst eine Reaktion des Immunsystems entsteht.
  3. Aus Ihrer Sicht als Immunneurologe: Was ist dran an der Theorie? Und wie einfach wäre dann eine Heilung?

    Prof. Sven Meuth: Insgesamt wird es sehr schwer sein, die HERV Hypothese zu beweisen und noch schwieriger wird es sein, daraus eine Therapie abzuleiten. Wie oben bereits beschrieben sind die HERV z.T. schon sehr lange in das Genom des Menschens integriert und erfüllen teilweise auch nützliche Funktionen. In der Theorie aus Halle fehlt daher immer noch eine Antwort auf die Frage, warum es bei MS-Patienten eine andere Reaktion gibt oder geben sollte als bei Gesunden. In dem Nervenarztartikel der Arbeitsgruppe aus 2013 wird eine Transaktivierung durch z.B. EBV vermutet – allerdings ist auch dieses Virus sehr verbreitet und kann nicht durch Verhaltensmaßnahmen sicher vermieden werden. Letztlich schreiben die Kollegen auch dort, dass eine Entzündungsreaktion ausgelöst wird und die Entzündungsreaktion kann zu dauerhaften Schäden führen, so dass letztlich diese Reaktion gehemmt werden sollte. Eine Heilung wäre nach jetzigen Kenntnisstand auch bei Annahme der HERV Hypothese nahezu unmöglich, da die HERV in das menschliche Genom integriert sind und nicht entfernt oder medikamentös gezielt behandelt werden können.Herzlichen Dank für Ihre Antworten, Prof. Meuth!

Quelle: MDR, 20.04.2017

Redaktion: AMSEL e.V., 09.05.2017