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Gesundes stärken statt Krankes trainieren

Kennen Sie schon die AMSEL-Grußkarten? Viele der Motive, die von Multiple Sklerose Kranken gestaltet wurden, sind während ihrer Kunsttherapie im Rehazentrum Quellenhof entstanden. Wie man durch Kunsttherapie neue Impulse zur Stress- und Krankheitsbewältigung erfahren kann, berichtet Thomas Blessing in Together 04/12.

"Mir ist heute etwas klar geworden: Mit all meinen gewohnten Denkmustern, die nur um meine Krankheit kreisen, kann ich unmöglich gesund werden. Ich muss lernen anders zu denken und das Gesunde in den Mittelpunkt meines Denkens stellen. Ich sollte lernen,

So fasst ein junger Mann das Ergebnis seiner Kunsttherapie-Stunde zusammen. Die ganze Stunde über war er damit beschäftigt, die MRT-Bilder seiner Entzündungsherde im Gehirn als Tonrelief abzubilden. Am Ende der Stunde stampft er seine Arbeit wieder zu einem formlosen Tonklumpen zusammen mit der Aussage: "Jetzt will ich etwas Schönes machen, mit Farben rumspielen oder so."

Was wir als schön empfinden, was wir als angenehm erleben, ist etwas, das wir anstreben, weil es uns mit unseren gesunden Anteilen verbindet. Dabei ist das Gesunde, wie der Soziologe Aaron Antonovsky in seinem Konzept der Salutogenese (Gesundheitsentstehung) ausführt, nicht das Normale, sondern ein labiler Gleichgewichtszustand, den wir aktiv immer wieder neu herstellen müssen.

Jeder Mensch ist kreativ

Seit Urzeiten nutzen wir Menschen kreative Auszeiten, um uns Rückzugs- und Regenerationsräume zu schaffen, in denen wir uns neu orientieren und Kraft tanken für die Aufgaben unseres Alltags.

Die dabei freigesetzte Kreativität ist keine Frage des Talents, sondern eine Folge der natürlichen Funktionen unseres Gehirns. Sie ist eine Ressource, die uns Problemlösungen ermöglicht und hilft, uns an die sich ständig ändernden Umweltbedingungen anzupassen.

Kunsttherapie nutzt die individuellen kreativen Ressourcen des Menschen, um Gewohnheiten zu verändern. Und was passiert, wenn man Gewohnheiten ändert? Das Gehirn muss umdenken, neue Lösungen suchen, neue Nervenverbindungen knüpfen. Dadurch können brachliegende Teile des Gehirns ausgefallene Funktionen mit übernehmen. Das ist auch das Grundprinzip der neurologischen Rehabilitation. Die Kunsttherapie ergänzt bzw. verstärkt als interdisziplinärer Teil des gesamten Therapiekonzeptes andere Therapieansätze und regt dazu an, die vorhandenen Fähigkeiten mit unterschiedlichsten Materialien ins Spiel kommen zu lassen. Voraussetzung hierfür ist, dass die verwendeten Materialien ein attraktives und niederschwelliges Einsteigen in die Materie ermöglichen und dass der Therapeut behutsam an die Materialien heranführt.

Autor: Thomas Blessing

seit 1997 Leitender Kunsttherapeut im Neurologischen Rehabilitationszentrum (NRZ) Quellenhof in Bad Wildbad

  • Studium der Kunsttherapie, Malerei und Grafik-Design
  • seit 1989 diverse Anstellungen als Kunsttherapeut in Rehakliniken und Sozialpädagogischen Einrichtungen
  • seit 1998 seminaristische Tätigkeiten zur Kunsttherapie für die AMSEL und andere Einrichtungen, sowie seit 2001 freiberufliche beraterische Tätigkeiten zu Konzeption und Design von Unternehmensleitbildern und Creativ-Coaching im Kommunikationsdesign

Neue Wege beschreiten, Entspannung erfahren

Der Patient stellt sich der Herausforderung, seine Aufmerksamkeit dem gegenwärtigen kreativen Spiel zu widmen und verlässt die Enge des Kreisens seiner Gedanken um die Erkrankung und den damit zusammenhängenden Problemen. Immer wieder gelangt er dabei zu überraschenden und ungeahnten gestalterischen Einfällen und Lösungen.

Spielen, Experimentieren, Herausfinden was angenehm ist, stimuliert die sinnliche Wahrnehmung, entspannt und lässt die Gedanken zur Ruhe kommen. Aus diesem spielerischen Umfeld entstehen neue Einsichten und Erfahrungen, die letztlich zu einem veränderten Verhalten im Alltag anregen, und die im gestalterischen Prozess konkretisiert, variiert und ausprobiert werden können.

Vertrauen in die eigene Stärke entwickeln

Mit Materialien und Techniken wie Farbe, Papier, Ton, Wolle, Stein etc. trainiert der Patient zugleich auch seine Problemlösefähigkeiten. Das Werk ist dabei zum einen Ausdruck neuer Perspektiven und Anregungen, zum anderen ist es aber auch der sichtbare Beweis, dass man etwas "schaffen" kann, wenn man an sich glaubt (Selbstwirksamkeit).

So bekommt der Gestaltende eine unmittelbare Rückmeldung über sein Tun und lernt mit Hilfe des Therapeuten, sich von seinen Stress erzeugenden Bewertungen und Vorstellungen zu distanzieren, damit er offener für neue Lösungen werden kann. Dies ist im Falle einer chronischen Erkrankung, die den Betroffenen oft vor neue Herausforderungen stellt, von elementarer Bedeutung. Denn mit dem Verlust seiner Flexibilität verliert der Erkrankte auf Dauer seine Auseinandersetzung mit seiner Erkrankung. Dass Kunsttherapie zu einer Verbesserung der Lebensqualität von MS-Betroffenen führen kann, konnte im Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof in einer 2010 durchgeführten randomisierten, kontrollierten Studie mit 69 Patienten nachgewiesen werden.

Mehr Lebensqualität durch Kunsttherapie

In den Bereichen Stimmung, Sozialverhalten, Selbstwirksamkeit und Fatigue zeigten sich in der Kunsttherapiegruppe deutliche Verbesserungen, die auch noch ein halbes Jahr nach dem Aufenthalt in der Klinik in leicht abgeschwächter Form zu erkennen waren. Aus den qualitativen Befragungen der Studie meldeten insbesondere die Teilnehmer der Kunsttherapie eine Zunahme an subjektivem Wohlbefinden, Veränderungsbereitschaft und geistiger Flexibilität.

Das zeigt auch die Rückmeldung einer Patientin am Ende ihres Aufenthaltes in der Rehaklinik: "Vielen Dank für die Zeiten in der Kunsttherapie, die mir Wege aus der Leistungsorientierung gezeigt haben und mir nahe gebracht haben, dass nicht das Ergebnis entscheidend ist, sondern die Zeit zählt, in der ich etwas tue, dass mir gut tut. Es hat gut getan, einmal den Mut aufzubringen etwas Neues auszuprobieren. Ich hoffe, dass es mir gelingt, etwas von dieser Haltung, in der der Augenblick zählt, in meinen Alltag zu integrieren."

Neues auszuprobieren, neue Erfahrungen zu machen, sich neue Denk- und Verhaltensweisen zu erarbeiten, bedeutet, neue Fähigkeiten zu erlernen und damit auf hirnorganischer Ebene das neuronale Netzwerk zu erweitern. So betrachtet kann die Kunsttherapie einen direkten Zugang zu regenerativen Prozessen im Gehirn ermöglichen, die durch eine Vermehrung der Synapsen und Verstärkung der Myelinschichten gekennzeichnet sind.

Achtsamkeit lernen und leben

Hierfür sind Neugierde und die Bereitschaft zum Lernen nötig, aber keine Vorerfahrungen. Im Gegenteil: zu viel Wissen steht dem kreativen Prozess eher entgegen. Wissen und enge Vorstellungen verhindern die Erfahrungen des achtsamen Voranschreitens, bei dem man Fehler macht, um daraus zu lernen. Achtsamkeit bedeutet, jeden Moment bewusst wahrzunehmen. Hirnforscher wie etwa der international renommierte Neurologe und Psychiater Daniel J. Siegel weisen in ihren Veröffentlichungen immer wieder auf die therapeutische Relevanz dieser aktiven und achtsamen Lernprozesse hin, wenn es darum geht, seine Fähigkeiten zu erweitern.

Quelle: Together 01/12, Thomas Blessing

Redaktion: AMSEL e.V., 20.12.2012