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Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr 2022

Prof. Mathias Mäurer zieht nach dem zweiten Pandemie-Jahr eine persönliche Bilanz. Und hat Wünsche für 2022. Zum Beispiel: mehr Vernunft!

Professor Mathias Mäurer steht gewiss nicht alleine da mit seiner Enttäuschung über das nun zu Ende gehende Jahr. 2021 hatte es in sich. Aus gesellschaftlicher wie aus medizinischer Sicht.

Als Arzt ist man womöglich noch einmal besonders enttäuscht über geringe Impfquoten. Und von der Flucht weniger, aber dennoch viel zu vieler in eine Welt „alternativer Fakten“. Nun heißt es lernen aus dem Vergangenen. Es in Zukunft besser machen. Für eine aufgeklärte und moderne Gesellschaft. Für mehr Vernunft.

Wissenschaftliche Methoden sind unbestechlich. Wissenschaft basiert ausschließlich auf Fakten. Die müssen sich belegen lassen. Sind immer der Ratio, also der Vernunft untergeordnet. Das unterscheidet Wissenschaft von einer "Milchmädchenrechnung". Dafür hier ein Beispiel:

Im Frühjahr/ Sommer 2020 haben nicht wenige Menschen nur deshalb an der Existenz oder gar der Gefährlichkeit von Corona gezweifelt, womöglich rückgeschlossen, das müsse eine Erfindung von irgendwelchen bösen Mächten sein (die einem natürlich, was auch sonst, Böses wollen), weil sie persönlich niemanden kannten, der infiziert war. – Hmm. Mal nachdenken, was das heißt, wenn man es zu errechnen versucht. (Inzwischen wissen wohl die meisten von jemandem mit Corona.)

Wissenschaft anstatt von Milchmädchenrechnung

Das persönliche Umfeld als Grundlage für Wissenschaft herzunehmen, ist natürlich vollkommen unwissenschaftlich. Das hieße, ausgerechnet alle Menschen, die man selbst kennt, vorausgesetzt, man ist ihnen in der fraglichen Zeit überhaupt begegnet und sie hätten einem dann auch anvertraut, dass sie mit Corona infiziert waren, als wissenschaftliche Kohorte zu verstehen. Und man wäre eben nicht ein Individuum, sondern läge zufällig genau im Durchschnitt.

amsel.de-Lesern wird längst ein Licht aufgegangen sein: Die Auswahl nach dem persönlichen Umfeld ist höchst subjektiv. Das ist weder randomisiert noch wiederholbar.

Man kann aber schon die Gegenprobe antreten, um solche Aussagen anzuzweifeln. Konkret also: Wie vielen Menschen begegnet man überhaupt in einem Zeitraum von 3 Monaten, die dann auch noch die Gelegenheit haben, einem von der eigenen Infektion zu erzählen oder das überhaupt tun wollen? Laut einer Studie hat ein Mensch durchschnittlich um die 150 Bekannte und Freunde (dazu zählen im Wesentlichen Familie, Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn), höchstens 50 Freunde, in aller Regel nur max. 5 wirklich eng Vertraute.

DIY-Studie: Kann man machen, aber...

Geht man also davon aus, dass der An-Corona-Zweifler zu den eher gut Vernetzten gehört, wären das circa 150 Menschen, von deren Erkrankung er gehört haben könnte (vorausgesetzt die Infizierten wollten das überhaupt weitergeben und hatten überhaupt Kontakt zu ihm in den besagten 3 Monaten).

Die durchschnittliche deutschlandweite wöchentliche Inzidenz je 100.000 Einwohner lag im Frühjahr 2020 bei ca. 50 Infizierten. Die 50 malgenommen mit der Anzahl der "überschaubaren" 13 Wochen dieser DIY-Studie, wären das also maximal 650 Menschen von 100.000.

Aber Mr. Gesunder-Menschenverstand sprach ja von nur einem einzigen Menschen, den er nicht kenne. Also: Unter wie vielen Menschen kommt es durchschnittlich genau zu einem Coronafall? 100.000 geteilt 650 gleich 153.

Wow, der Typ hat ja recht, mag man nun denken. Er kennt 150 Menschen, da dies ohnehin nur eine Überschlagsrechnung ist, kommt das ja gut hin mit den 153. – Hat er aber nicht. Nicht mit seinem Rückschluss jedenfalls. Denn "Kollege Zufall" könnte tatsächlich bis 153 gezählt haben. Oder nicht alle Bekannten haben ihm zeitnah mitgeteilt, dass sie Corona-infiziert sind oder waren. Oder er kennt doch deutlich weniger Leute. Oder er trifft die Hälfte davon erst im Herbst, kann also von der im Frühjahr durchgemachten Infektion noch nichts wissen.

... wenn dann nach wissenschaftlichen Kriterien

Und: Rein wissenschaftlich betrachtet müsste man mehrere Hundert Menschen befragen und nicht genau einen einzigen, ob sie in ihrem Bekanntenkreis von je ca. 150 Bekannten jemanden mit Corona kennen, um eine verlässliche Datengrundlage zu haben. Wir als Einzelperson mit unserem individuellen Bekanntenkreis taugen leider nicht wirklich für wissenschaftliche Zwecke. Auch wenn solche Berechnungen "im eigenen Vorgarten" natürlich verlockend und bequem sind.

Viele mögen umgekehrt schon mal gedacht haben: "Nun kenne ich schon so viele Menschen mit Multipler Sklerose. Ich glaube, die Zahl der Diagnostizierten nimmt rasant zu." Auch hier ist unser eigenes Umfeld überhaupt nicht geeignet für wissenschaftliche Zwecke, denn die Psychologie spielt mit (Stichwort "selektive Aufmerksamkeit") und auch eine Art menschliche Anziehung, denn wenn das Hochzeitspaar auf einer Hochzeitsgesellschaft davon weiß, dass Sie in einer MS-Selbsthilfegruppe tätig sind, dann wird es Sie eher darauf hinweisen, dass Daniel seit 3 Monaten diese Diagnose hat als einen der anderen 80 Gäste. Und schwupp! Kennt man noch einen Menschen mit MS.

Ganz davon abgesehen, dass unser Leben nicht als wissenschaftliche Anordnung verläuft. Denn hätten wir wegen Kopfschmerzen nicht die Chorprobe sausen lassen, dann wüssten wir danach vielleicht, dass sich Sabine infiziert hat. Oder die erste Bahn verpasst und nur deshalb neben Karin gesessen, die vom gemeinsamen Nachbarn Tim erzählt hat und dessen Corona-Infektion. Das wäre so, als würde ein Wissenschaftler jedes Mal, wenn er die Bahn verpasst, zwei Reagenzgläser vertauschen und alle Ergebnisse, die während seiner Migräne aufgekommen sind, einfach links liegen lassen.

Wir hoffen jedenfalls, Ihnen schwurbelt nach diesem kleinen Abriss nicht zu sehr der Kopf und Sie können ein schönes Weihnachtsfest, hoffentlich auch ein paar freie Tage genießen und kommen gut ins Neue Jahr! Lassen Sie es uns klug angehen.

Quellen: MS-Docblog, 21.12.2021; Robin Dunbar, Understanding the Power of our Most Important Relationships, 2021.

Redaktion: AMSEL e.V., 20.12.2021