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Entsteht Multiple Sklerose indirekt ?

Bisher nahm man an, dass Autoantikörper das Myelin direkt angreifen. Neuesten Erkenntnissen Göttinger Forscher zufolge gibt es jedoch einen Umweg über Fress- und T-Zellen. Eine therapeutische Konsequenz könnte dies vor allem für eine bestimmte Gruppe schubförmig erkrankter Patienten haben, so Prof. Dr. Martin Weber im Gespräch mit der AMSEL-Onlineredaktion.

Forscher der Universitätsmedizin Göttingen beschreiben einen bisher unbekannten Mechanismus in der Entstehung der Multiplen Sklerose. Er kann die entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS) auslösen und verstärken. MS zeigt sich damit immer mehr als komplexes Krankheitsbild. Spannend zwar, aber auch nicht leicht zu therapieren. Die neue Erkenntnis der Göttinger könnte jedoch einer speziellen Patientengruppe zur passenden Therapie verhelfen.

 

 

Prof. Dr. Martin Weber, hier bei der Verleihung des Sobek-Nachwuchspreises 2011 in Stuttgart.

Bestimmte Immunzellen, die T-Zellen, stehen bislang im Fokus von Behandlungsstrategien gegen die entzündliche Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose. Forscher der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) haben nun immunologische Erkenntnisse gewonnen, die alternative Ansatzpunkte für eine Behandlung von MS eröffnen könnten.

In einem Tiermodell der MS konnten Göttinger Forscher aus dem Institut für Neuroimmunologie sowie dem Institut für Neuropathologie und der Klinik für Neurologie der UMG unabhängig voneinander einen bisher weitgehend unbeachteten Mechanismus des Immunsystems aufzeigen. Dieser beruht auf der Wirkung von Autoantikörpern und kann die entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS) einleiten und verstärken. Diese Entdeckung sei für das Verständnis der krankheitsfördernden Faktoren bei MS und damit auch für potentielle diagnostische oder therapeutische Optionen der Multiplen Sklerose von Bedeutung, so die Forscher.

Autoantikörper nehmen Umweg und holen sich "Verstärkung"

Zur Rolle von Autoantikörpern war man bislang davon ausgegangen, dass diese direkt Schaden im Nervengewebe anrichten: Indem sie entzündlich angegriffene Gewebestrukturen weiter zerstören und damit eine bestehende Erkrankung verstärken. Die neuen Daten schließen diese Möglichkeit nicht aus. Sie weisen aber auf eine zusätzliche, krankheitsauslösende Rolle von Autoantikörpern bei MS hin, die für diagnostische, vor allem aber für therapeutische Ansätze von entscheidender Bedeutung sein könnte.

"Aus unseren Arbeiten wird klar, dass Autoantikörper den Entzündungsprozess im Nervensystem einleiten und verstärken können, indem sie körpereigene Strukturen in Fresszellen konzentrieren und somit für T-Zellen sichtbar machen. So würde der Nachweis von bestimmten Autoantikörpern auf ein Risiko hinweisen, Erkrankungsschübe zu entwickeln. Dies könnte hilfreich sein für eine rechtzeitige Veranlassung besonderer Vorsichtsmaßnahmen", sagt Seniorautor der Publikation in "Acta Neuropathologica” Prof. Dr. Martin S. Weber, Institut für Neuropathologie und Klinik für Neurologie der UMG. Das entscheidende therapeutische Potential der neuen Befunde aus Göttingen dürfte nach Ansicht der Forscher jedoch darin liegen, dass eine definierbare Gruppe von Patienten, die Autoantikörper besitzen, wahrscheinlich eine auf diese Autoantikörper gerichtete Therapie erhalten sollten.

Und gibt es potenzielle Wirkstoffe gegen diese Antikörper ? Prof. Martin Weber nennt Rituximab und seinen Nachfolger Ocrelizumab als zielgerichtete Therapie. Als "Anti-CD-20" zerstören sie die Vorläufer der Antikörper, nämlich die B-Zellen. Ocrelizumab erhalte voraussichtlich 2017 die Zulassung gegen Multiple Sklerose, so Weber.

Antikörper machen Myelin für T-Zellen "schmackhaft"

Weiter interessant an dem Göttinger Fund: Um diesen Umweg über Fress- und T-Zellen zu gehen, müssen wenige, winzige Teile des Myelins vom ZNS in die Lymphknoten gelangen. Dass überhaupt eine solche Lymphverbindung zwischen Gehirn und Immunsystem besteht, beruht auf einer noch recht jungen Erkenntnis - AMSEL.DE hatte berichtet. Bis Juni 2015 ging die medizinische Fachwelt davon aus, das Gehirn sei komplett vom peripheren Immunsystem abgeschottet.

Vermutlich wandern aber winzigste Stückchen Myelin bei uns allen vom Gehirn in die Lymphknoten. Dort allerdings braucht es spezielle Bedingungen, um eine Multiple Sklerose anzustoßen oder anzukurbeln: die nötigen Antikörper, um das körpereigene Myelin schmackhaft zu machen für T-Zellen. Die dann wiederum ihr zerstörerisches Werk fortsetzen oder beginnen.

HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Die Erkrankung Multiple Sklerose ist nach gängigem Verständnis eine Autoimmunerkrankung, d.h. sie wird von einer Subgruppe von Immunzellen, den sogenannten T-Zellen, ausgelöst. Bei der MS sehen einige T-Zellen fälschlicherweise das gesunde Hirngewebe als fremd an. Sie organisieren einen Immunangriff gegen das eigene ZNS, Nervengewebe wird zerstört. In der Folge kommt es unter anderem zu neurologischen Ausfallserscheinungen wie Lähmungen, Gefühls oder Sehstörungen.

FORSCHUNGSERGEBNISSE IM DETAIL

Warum können T-Zellen ausgerechnet Hirngewebe angreifen, das normalerweise über effiziente Schutzmechanismen verfügt und sich gegenüber Immunzellen abschottet ? Diese wichtige Frage über die Krankheitsentstehung der MS ist noch weitgehend unbeantwortet. Der von den Göttinger Forschern entdeckte Immunmechanismus könnte erklären, wie T-Zellen auf das Hirngewebe aufmerksam gemacht werden und eine Immunreaktion einleiten können. "

Interessanterweise können T-Zellen nicht direkt gegen Eindringlinge reagieren. Wahrscheinlich hat die Natur als Schutzmechanismus vorgesehen, dass dieser unter Umständen folgenschweren T-Zellaktivierung ein Kontrollschritt vorgeschaltet ist. Wie dieser im Detail abläuft, haben wir uns genau angeschaut – und dann danach gesucht, wie sich die Situation bei der Multiplen Sklerose ändert", sagt Priv.Doz. Dr. Fred Lühder vom Institut für Neuroimmunologie der UMG und einer der Seniorautoren der Publikation im Journal "Proceedings of the National Academy of Sciences USA".

Bereits bekannt ist: Bevor es überhaupt zu einer Aktivierung von T-Zellen kommen kann, müssen potentielle Schädlinge, z.B. Bakterien oder Tumorzellen, zunächst von Fresszellen aufgenommen und verdaut werden. Die verdauten "Reste" dieser Eindringlinge, sogenannte Peptide, werden auf bestimmten Molekülen, die auf der Zelloberfläche der Fresszellen lokalisiert sind, den T-Zellen gezeigt. Wenn es sich um potentiell problematisches Material handelt, werden T-Zellen aktiviert und schlagen Alarm. Besteht keine Gefahr, werden die T-Zellen ruhig gestellt. Verständlicherweise sollte letztere Konstellation bei körpereigenem Gewebe vorliegen. Es gibt zwar bei allen Menschen einige T-Zellen, die potentiell auch mit eigenem Körpergewebe reagieren, aber ohne entsprechende Alarmsignale werden diese nicht aktiviert, und es kommt deshalb auch zu keiner Autoimmunattacke.

WIE ÄNDERT SICH DIE SITUATION BEI MULTIPLER SKLEROSE?

Nach den neuen Erkenntnissen der Göttinger Forscher spielt eine weitere Komponente des Immunsystems eine entscheidende Vermittlerrolle bei der Aufnahme von Hirngewebe durch Fresszellen. Es handelt sich dabei um durch andere Immunzellen (sog. B-Zellen) gebildete Antikörper. Solche Antikörper können neben ihren Funktionen in der Immunabwehr auch als "Autoantikörper" wie T-Zellen gegen eigenes Gewebe gerichtet sein und direkt an körpereigene Zielstrukturen binden.

In einem Modell der MS mit potentiell gegen Hirngewebe gerichteten T-Zellen entdeckten die Göttinger Forscher, dass allein die Zugabe von gegen Hirngewebe gerichteten Autoantikörpern eine starke Aktivierung der T-Zellen und in der Folge eine fulminante Entzündung des ZNS auszulösen vermag.

Was dabei im Detail abläuft, konnten sie in verschiedenen Modellsituationen aufzeigen: Autoantikörper banden zunächst Zellfragmente mit entsprechenden Zielerkennungsstrukturen. Diese mit Autoantikörpern dekorierten Strukturen wurden sehr begierig von Fresszellen aufgenommen, verdaut und dann als Selbstgewebspeptide den T-Zellen präsentiert. "Dieser Schritt hat entscheidende Konsequenzen für die Erkennung von Selbstgewebe durch T-Zellen und deren anschließende Aktivierung", sagt Prof. Dr. Alexander Flügel, Direktor der Instituts für Neuroimmunologie der UMG und einer der beiden Seniorautoren der Publikation im Journal "Proceedings of the National Academy of Sciences USA". "Autoantikörper können also als eine Art Marker fungieren. Frei herumschwimmende Selbstgewebsfragmente machen sie so den Fresszellen geradezu erst "schmackhaft". Gleichzeitig wirken die Autoantikörper als "Sammler", indem sie die relativ seltenen Bruchstücke von Hirngewebe in den Fresszellen konzentrieren."

Quelle: Pressemitteilung der Universität Göttingen, 19.05.2016

Redaktion: AMSEL e.V., 19.05.2016