Spenden und Helfen

Entsteht Multiple Sklerose in der Lunge ?

Göttinger Forscher entdecken Details zur Ursache von MS. Und sie erkennen einen bislang unbekannten T-Zell-Rezeptor: Ninjurin-1.

T-Zellen hat und braucht jeder Mensch. Warum sie sich wie bei Multipler Sklerose (MS) gegen das eigene Immunsystem richten und wie sie es schaffen, die an sich unüberwindliche Blut-Hirn-Schranke zu überschreiten - diesem Rätsel kamen Göttinger Forscher nun auf die Spur.

  1. Theoretisch könnten die T-Zellen jeden Menschen krank machen, indem sie das eigene Immunsystem angreifen - tatsächlich lösen sie nur bei 0,1 % der Bevölkerung eine Multiple Sklerose aus
  2. Normalerweise verhindert die Blut-Hirnschranke (eine "dichte" Gefäß-Barriere, auf engl. Brain-Blood-Barrier) ein Eindringen der T-Zellen ins Gehirn. Sie werden dort normalerweise nicht benötigt, um Angreifer zu bekämpfen (ihr eigentlicher Job), denn diese Schranke verhindert auch, dass Keime dort eindringen können. Das Gehirn ist quasi "keimfrei".
  3. Wo im Körper werden die T-Zellen so umprogrammiert, dass sie diese Schranke überwinden können? Im Gehirn kann es ja schlecht sein, denn dort gelangen sie ja normalerweise nicht hin.
  4. Krankmachende T-Zellen, also solche, die sich gegen das eigene Immunsystem richten, können die Schranke nicht gleich nach ihrer Aktivierung überwinden. Das müssen sie erst lernen, stellten die Wissenschaftler zunächst fest.
  5. Anstatt sich weiter zu teilen, konzentrieren sie sich auf das Wandern im Körper. Dabei hilft ihnen "Ninjurin-1", ein Rezeptor, den die Göttinger Wissenschaftler um Prof. Dr. Alexander Flügel nun neu entdeckten. Der Rezeptor unterstützt T-Zellen dabei, sich an der Innenseite von Gehirn-Gefäßen anzuheften, also aus der Blutbahn ins Nervengewebe einzuwandern.
  6. Sind die schadhaften T-Zellen erstmal im Gehirn angelangt, schalten sie wieder um: von Wandern auf Produktion. Sie stellen Entzündungsstoffe her, die das Nervengewebe angreifen.
  7. Aber wo im Körper beginnt die erste Umprogrammierung der T-Zellen ? Das war ja die Ausgangsfrage (3.) Auch darauf fanden die Wissenschaftler eine - überraschende - Antwort: in der Lunge!
  8. Aktivierte T-Zellen nehmen den Umweg über die Lunge, dann immer schneller über die Gefäße und Luftwege dort in angrenzende Lymphknoten, von dort über die Milz wieder zurück in die Blutzirkulation und von da - ins Gehirn.
  9. Unter speziellen Mikroskopen konnten die Forscher zeigen, dass die T-Zellen in der Lunge keineswegs nur entlang des äußeren Bronchialgewebes kriechen, nein, sie nehmen sogar die Luftleiter als Schnellstraße.

Krankheitsschübe bei MS-Kranken werden also möglicherweise durch Infekte, aber auch durch Rauchen ausgelöst, so der Schluss der Göttinger Forscher: Schlafende autoaggressive T-Zellen werden durch lokale Reizung wie eben Infekte oder Rauchen geweckt und nehmen ihre Wanderung in Richtung Gehirn auf. Und dort lösen sie Entzündungen aus, die zu Schüben führen.

Ähnlich wie die Lunge könnten freilich auch andere Organsysteme T-Zellen aktivieren und MS oder MS-Schübe auslösen. Bereits diskutiert wurden der Darm (wir haben berichtet) und die Blase. Eine große Anzahl der bisher identifizierten "MS-Gene" stimmen den Göttinger Forschern zufolge jedoch mit den von ihnen bei den "Wander-T-Zellen" aus der Lunge gefundenen Genen überein.

Diese Entdeckungen lüften nicht nur weiter das Geheimnis um die Ursache der Multiplen Sklerose; auch schaffen sie einen Grundstein für weitere Therapieansätze.

Das Projekt wurde von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung gefördert.

Quelle: Pressemitteilung der Universitätsmedizin Göttingen, 06.12.2012

Redaktion: AMSEL e.V., 06.09.2012