Ein Blick sagt vieles

Die Netzhaut gibt Auskunft über Hirnschädigungen bei Multipler Sklerose. Das haben deutsche Ärzte zusammen mit Messtechnik-Experten herausgefunden.

Das Kooperationsprojekt von PTB und Charité könnte künftig helfen, den Verlauf der Krankheit besser zu überwachen und die Wirkung von Medikamenten zu kontrollieren. Ärzte der Charité – Universitätsmedizin Berlin haben jetzt zusammen mit Messtechnik-Experten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) ein bisschen Licht ins Dunkel des MS-Verlaufs gebracht.

Sie maßen gezielt die Schichtdicke bestimmter Netzhautbestandteile und die Konzentration eines bestimmten Neuronenmarkers in der Sehrinde des Gehirns. Im Vergleich mit Messungen der allgemeinen Gehirnveränderungen zeigt sich: Beide, sowohl die Veränderungen in der Netzhaut als auch der Neuronenmarker NAA, sind recht gute Indikatoren für das allgemeine Fortschreiten der Krankheit. Die Ergebnisse könnten dabei helfen, die Krankheit insgesamt besser zu verstehen und die Wirkung von Medikamenten effizienter zu überwachen.

Sehstörungen mit Minderung der Sehschärfe und Störungen der Augenbewegung sind häufig bei Multipler Sklerose. Die Forscher haben sich daher gezielt jene Teile des Gehirns angeschaut, die fürs Sehen verantwortlich sind. Dass die charakteristischen Nervenschäden schon gleich zu Beginn der Krankheit auftreten, war bereits bekannt, doch man konnte sie bisher nicht konkret messen.

In dem Kooperationsprojekt untersuchten die Ärzte der Charité und die Medizinphysiker der PTB insgesamt 86 Patienten mit der häufigsten Form der Multiplen Sklerose, der schubförmig-remittierenden MS. Mithilfe von optischer Kohärenztomografie bestimmten sie die Schichtdicke der retinalen Nervenfasern als Maß für die Schädigung des vordersten Teils der Sehbahn.

Die Ergebnisse verglichen sie mit Magnetresonanztomografie-Aufnahmen, die den Anteil des Hirngewebes am Hirngesamtvolumen ("brain parenchymal fraction", BPF) zeigen und so Auskunft über den allgemeinen Verlust von Gehirnsubstanz geben. Zusätzlich bestimmten sie in der PTB per Hochfeld-Magnetresonanzspektroskopie die Konzentration des Neuronenmarkers N-Acetylaspartat (NAA) in weißer Gehirnsubstanz und dem visuellen Cortex und quantifizierten sie mit einem in der PTB entwickelten Auswerteverfahren.

Auf Zustand der gesamten Hirnsubstanz schließen

Es zeigte sich, dass alle drei Parameter miteinander korrelieren. Erstaunlicherweise galt das für den Neuronenmarker NAA nicht für den Bereich der weißen Gehirnsubstanz, wo ja die meisten MS-Entzündungsherde zu finden sind, sondern nur für den visuellen Cortex, also jenen Teil des Gehirns innerhalb der grauen Gehirnsubstanz, der fürs Sehen zuständig ist. In einem kombinierten statistischen Auswertemodell ermöglichen Messungen des Anteils des Hirngewebes am Hirngesamtvolumen (BPF) und des Markers NAA im visuellen Cortex unabhängig voneinander Aussagen über die retinale Nervenfaserschichtdicke – oder umgekehrt. So lassen die Ergebnisse vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen Schädigungen in verschiedenen Bereichen der Sehbahn im Gehirn (nämlich dem sogenannten anterioren und dem posterioren Anteil) gibt.

Die mit diesem neuen multimodalen Ansatz ermittelten Ergebnisse könnten die Verlaufskontrolle der Krankheit verbessern. So lässt sich aus der Messung eines Parameters – etwa der Schichtdicke der retinalen Nervenfasern – auf den Zustand der gesamten Hirnsubstanz schließen. Auf ähnliche Weise lässt sich ermitteln, wie groß der Verlust von Hirnsubstanz in bestimmten Hirnarealen mit gemeinsamer Funktion ist. Auch die Bewertung des therapeutischen Effekts neuroprotektiver Substanzen könnte verbessert werden – also die Frage, ob ein Medikament wirkt oder nicht. Schließlich könnten die Forscher allgemein etwas über überregionale Schadensprozesse in miteinander verschalteten Hirnbereichen lernen.

Quelle: Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB), 23.09.11

Redaktion: AMSEL e.V., 27.09.2011